Ein offenes Ohr für Kinder

Ein offenes Ohr für Kinder

„Linka bezpečí“ nimmt sich seit über 20 Jahren Sorgen und Ängsten an. Ein Gespräch mit der Leiterin Ivana Šatrová

11. 11. 2015 - Text: Jan NechanickýInterview: Jan Nechanický; Foto: Ivana Šatrová/Linka nebezpečí

Wer in Tschechien die Telefonnummer 116 111 wählt, hat wahrscheinlich ein Problem. Seit 1994 können dort Kinder und Jugendliche zum Nulltarif anrufen, wenn sie nicht weiter wissen und einen Rat brauchen. In der vergangenen Woche ist die Telefonseelsorge „Linka bezpečí“, die durch staatliche Zuschüsse und Spenden finanziert wird, im tschechischen Senat als „Non-Profit-Organisation des Jahres“ ausgezeichnet worden. Welche Sorgen die Anrufer plagen, weiß Ivana Šatrová, die mehrere Jahre für die Hotline gearbeitet hat, bevor sie im Juli 2014 zur Leiterin ernannt wurde. Mit PZ-Redakteur Jan Nechanický sprach sie über Streiche am Telefon, verpasste Chancen und dramatische Situationen.

Wie würden Sie einem Laien die Tätigkeit Ihrer Organisation beschreiben?

Ivana Šatrová: Wir sind hierzulande die einzige Telefonseelsorge für Kinder, rund um die Uhr erreichbar und behandeln alles anonym. Wir vergleichen uns vor allem mit Organisationen aus dem Ausland und schneiden dabei sehr gut ab, auch was die Anzahl der Telefongespräche betrifft.

Wie viele Kinder wenden sich denn an Sie?

Šatrová: Uns rufen jeden Tag bis zu 550 Kinder an. Die Kinder können mit uns über Sorgen aller Art reden. Es rufen nicht nur misshandelte Kinder an, bei uns werden sämtliche Probleme ernst genommen, nichts wird bagatellisiert.

Wird jeder Anrufer durchgestellt?

Šatrová: Leider nicht, nur etwa jeder Dritte. Das mag den einen oder anderen vielleicht überraschen, aber das ist durchaus normal – im internationalen Vergleich gesehen.

Spielt man Ihnen auch manchmal Streiche?

Šatrová: Wir nennen das Probeanrufe, die sehr wichtig sind. Im Ausland gab es bereits einige Untersuchungen, die bestätigen, dass Kinder den Dienst erst testen müssen, um ihn wirklich schätzen zu lernen und sich im Ernstfall an ihn zu wenden. Kinder rufen uns manchmal an und erzählen uns, sie hätten ein paar Mal solche Spaßanrufe gemacht, aber bräuchten nun wirklich Hilfe. Sie wenden sich auch an uns, weil sie gemerkt haben, dass wir selbst ihren Test ernst genommen haben und wir sie dafür nicht verurteilen. Wir reagieren auf solche Probeanrufe seriös und sagen „Wir verstehen, dass Du das erst mal ausprobieren wolltest. Wenn Du tatsächlich Sorgen hast, kannst du dich gern an uns wenden.“ Viele Kinder bestätigen uns, dass sie dieser respektvolle Umgang dazu bewogen hat, sich im Notfall tatsächlich an uns zu wenden.

Filtern Sie die Anrufe in irgendeiner Form?

Šatrová: Das Kind ruft zuerst in einer Zentrale an, die dann als eine Art Filter fungiert. Manchmal rufen uns auch Erwachsene an, die wir dann an andere Dienste weiterleiten. Einige Kinder wollen nur eine kurze Auskunft. Erst wenn in der Zentrale die Situation so eingeschätzt wird, dass das Kind ein längeres Gespräch benötigt, leitet sie es an einen Berater weiter, der unbegrenzt Zeit und Ruhe für dieses eine Kind hat. Aber auch in der Zentrale müssen geschulte Leute sitzen. Ein Kind ruft beispielsweise an und sagt „Ich blute, was soll ich tun?“ oder „Ich habe Tabletten geschluckt, es geht um mein Leben.“ In solchen Situationen muss natürlich sofort reagiert werden.

Wie wird man zum Telefonseelsorger?

Šatrová: Unsere Mitarbeiter müssen nicht unbedingt über eine Ausbildung in Psychologie oder Sozialarbeit verfügen, müssen aber ein gewisses Talent mitbringen. Das wird beim psychologischen Einstufungsgespräch überprüft. Danach muss der Bewerber einen Kurs zu telefonischer Krisenintervention absolvieren. Der dauert 150 Stunden und zieht sich über mehrere Monate hin. Man kann ihn auch als eine Art Motivationsprüfung betrachten, da ihn die Teilnehmer aus eigener Tasche bezahlen müssen. Nach diesem Training kommen die sogenannten kontrollierten Anrufe, bei denen die Absolventen noch nicht mit Kindern sprechen, sondern mit anderen Beratern, die deren Rolle einnehmen. Ganz am Ende gibt es noch ein Gespräch mit einem Psychologen. Insgesamt dauert der Bewerbungsprozess ein dreiviertel Jahr. Es vergeht also eine lange Zeit, bis die Angestellten in Kontakt mit Kindern kommen. Wir haben eine große Verantwortung.

Mit welchen Problemen wenden sich die Kinder am häufigsten an Sie?

Šatrová: Da geht es natürlich um zwischenmenschliche Beziehungen, zu Mitschülern, innerhalb der Familie. Aber wenn ich ein konkretes Thema besonders hervorheben soll, dann – ich sage es ganz offen – ist es Sex. Das ist etwas, was die Kinder einfach interessiert, und es ist ganz offensichtlich, dass sie sich außer mit uns vor allem mit ihren Freunden darüber austauschen oder Informationen im Internet suchen. Daher sprechen wir auch am häufigsten mit Kindern zwischen 12 und 16 Jahren. Es ist alarmierend, wie völlig unterschätzt Sexual­kunde bei uns ist. Die Schulen wollen sich diesem Thema nicht widmen, Lehrer haben davor Angst, die Eltern fürchten sich mit ihren Kindern darüber zu sprechen. Dabei beugt eine konsequente Aufklärung sexuellem Missbrauch vor. Manchmal denken die Erwachsenen, dass man mit den Kindern darüber nicht zu sprechen braucht, das Internet ist doch voll davon, Sex ist überall. Aber gerade deswegen sind die Informationen, die die Kinder bekommen, sehr oft verzerrt und ungenau. Es gibt Fälle von Anrufen, da meldet sich ein 14-jähriges Mädchen bei uns und meint, dass ihr Freund ihr erklärt hat, sie könne nicht schwanger werden, weil sie erst 14 sei. Wir denken nur, die Kinder würden schon alles wissen …

Wie machen Sie auf das Problem aufmerksam?

Šatrová: Wir geben Publikationen heraus, unter anderem einen Ratgeber für Eltern und Pädagogen. Das sind einfache Anleitungen dazu, wie man mit Kindern darüber spricht – natürlich ihrem Alter entsprechend. Soweit ich weiß, sind diese Bücher die einzigen, die zu diesem Thema in den letzten Jahren in Tschechien entstanden sind. Wir bieten auch Seminare in den Schulen an. Dort arbeiten wir immer mit einer ganzen Klasse. Die Kinder wählen Themen aus, über die sie sprechen möchten.

Sie erhalten sicher auch Anrufe zu ernsteren Themen.

Šatrová: Bis zu zehn Kinder rufen am Tag an, weil in ihrer Schule jemand schikaniert wird. Entweder sind sie selbst Opfer oder sie sehen, dass ihre Mitschüler darunter leiden. Auch Selbstverletzung hat in letzter Zeit zugenommen – vor allem bei Mädchen. Das ist ein Thema, dass wir vor ein paar Jahren noch nicht gekannt haben. Am Tag rufen auch ein bis zwei Kinder bei uns an, die sich das Leben nehmen wollen. Wegen Missbrauch melden sich fünf bis sechs Kinder.

Als die „Linka bezpečí“ im Jahr 1994 gegründet wurde, hatten nur die wenigsten ein Handy. Heute ist fast jeder rund um die Uhr erreichbar. Das hat bestimmt auch Ihre Arbeit beeinflusst.

Šatrová: Auf jeden Fall. Kinder konnten sich damals nur melden, wenn sie Zugang zu einem Telefon hatten. Jetzt können sie auf dem Weg von der Schule anrufen, in den Pausen. Generell aber doch am häufigsten gleich nach der Schule – also dann, in der die Eltern noch nicht zu Hause sind. Sehr oft rufen sie auch in den Ferien an, wenn sie Zeit haben. Viele denken, dass die meisten Kinder in der Zeit der Zeugnisvergabe anrufen. Aber das stimmt nicht. Sehr schwer war für uns im vergangenen Jahr die Weihnachtszeit.

Seit 2010 hat sich die Zahl der von ihnen betreuten Anrufe verringert. Wie gehen Sie damit um?

Šatrová: Die Anzahl der Anrufe ist zwar gesunken, Chat-Nachrichten und E-Mails haben aber gravierend zugenommen. Wir müssen uns dorthin bewegen, wo sich die Kinder heutzutage aufhalten. Und das sind vor allem die sozialen Netzwerke. Wir wollen ihnen klarmachen, dass wir nicht nur für Missbrauchsopfer da sind und wir mehr sind als ein Sorgentelefon.