Ein Mord mit territorialen Folgen
Böhmen und Pfalz teilten sich über 250 Jahre die Herrschaft über die Fraisch. Spuren findet man noch heute
6. 4. 2016 - Text: Philipp SchönerText und Foto: Philipp Schöner
Ein Schuss fällt. Jörg Mayerhofer geht zu Boden. Ein letzter Atemzug und der Egerer Sattler ist tot. Niedergestreckt von der Kugel eines Waldsassener Bauern, wird er vom selben in der kurpfälzischen Stadt beerdigt. Weder der Täter noch das Opfer konnten sich im Jahr 1589 wohl vorstellen, was der Mord im Grenzgebiet zwischen dem Königreich Böhmen und der Oberen Pfalz auslösen würde – und dass zwei Jahre später dort die sogenannte Fraisch, ein geteiltes Herrschaftsgebiet entstehen würde.
Das ehemalige Fraischzentrum Neualbenreuth ist mit seinen rund 900 Einwohnern heute ein idyllischer Erholungsort an der tschechischen Grenze. In der Mitte steht nahe dem Rathaus eine barocke katholische Kirche. Der Marktplatz ist mit Kopfsteinen gepflastert. Im Hintergrund erhebt sich der 939 Meter hohe Tillenberg (Dyleň), auf dem seit 1846 der Königsstein die Grenze zwischen Bayern und Böhmen markiert. Nur wenig erinnert daran, dass um dieses Gebiet jahrhundertelang gestritten wurde.
Die Auseinandersetzungen begannen im 14. Jahrhundert, als das zum Herzogtum Bayern gehörende Nordgaugebiet zerfiel, das sich von der Donau nach Norden bis zum Main und nach Osten bis ins Egerland erstreckte. Der Konflikt drehte sich um die Rechts- und Grenzverhältnisse zwischen dem Stiftland, das zum Kloster Waldsassen gehörte, und dem Egerland, dem Gebiet um die heutige tschechische Stadt Cheb. Letzteres verpfändete Ludwig der Bayer 1322 an das Königreich Böhmen, dessen fester Bestandteil es wenig später wurde. Die Reichsstadt Eger und das Stift Waldsassen erwarben jedoch weiterhin Grundbesitz im jeweils anderen Einflussgebiet.
Dies führte dazu, dass in einigen Dörfern sowohl kurpfälzische als auch böhmische Bürger lebten, so zum Beispiel in Neualbenreuth, Altalbenreuth (heute Mýtina), Querenbach, Gosel (heute Kozly) und Schönlind (heute Krásná Lípa). Dadurch überschnitten sich bereits Anfang des 15. Jahrhunderts die Einflussbereiche; oft war unklar, welche Seite für die Rechtsprechung zuständig war. Am 2. November 1415 verkündete das Egerer Landgericht erstmals einen Schiedsspruch: Das Kloster und die Reichsstadt sollten in den gemischten Ortschaften „ein ums andere“ abwechselnd Recht sprechen. Dieses Urteil erwies sich allerdings schon bald als zu vage.
Der Mord am böhmischen Sattler Mayerhofer im Jahr 1589 bei Hundsbach unweit der heutigen Grenze zeigte erneut, dass die bestehenden Gesetze nicht ausreichten. Die Stadt Eger behauptete, sie wäre Gerichtsherr und die böhmischen Beamten sollten den Fall untersuchen. Es kam zum Streit. Infolgedessen bildeten Vertreter beider Gebiete eine Kommission, um die Verhältnisse eindeutig zu klären. Am 23. September 1591 verabschiedeten sie den Rezess über das Fraischgebiet, der besagte, dass sich das Kloster und die Stadt Eger die Herrschaft fortan teilen sollten.
Als Fraisch (abgeleitet vom althochdeutschen Wort für Schrecken bringend) wurde das Gebiet um Neualbenreuth, Altalbenreuth, Querenbach und Gosel sowie die ausschließlich von kurpfälzischen Bürgern bewohnten Dörfer Hardeck, Boden, Maiersreuth, Schachten und Mugl bestimmt. In diesen Orten sollte die Gerichts- und die Zinsbarkeit jährlich am 29. Juli in die Hände der jeweils anderen Vertragspartei fallen. In geraden Jahren war Eger Landesherr, in ungeraden das Kloster. Verkündet wurde der Wechsel auf dem Marktplatz von Neualbenreuth.
Infolgedessen mussten die Bewohner die Fahnen der Kurpfalz an ihren Häusern jedes Jahr gegen böhmische tauschen und sich die Währung des jeweiligen Landesherren besorgen. Doch sie hatten auch Vorteile. Die Fraisch wurde zu einer Art Freihandelszone, in der Waren zum Eigenbedarf zwischen der Stadt Eger und dem Stift Waldsassen abgabenfrei transportiert werden durften. Begehrt waren auf böhmischer Seite Bier und Salz, auf pfälzischer Seite Eisen. Zwar bedurfte es bei größeren Mengen von Getreide oder Vieh der Genehmigung durch Beamte. Die wurde aber lediglich bei schwerer Nahrungsmittelknappheit verweigert.
Über die Jahre entwickelte sich außerdem eine grenzübergreifende Kultur. Sie brachte den Egerländer Dialekt als gemeinsame Mundart hervor. Bis heute erinnern an den Austausch auch Fachwerkhäuser mit typisch böhmischem Rautenmuster aus rot angestrichenen Holzbalken in einigen bayerischen und tschechischen Grenzorten. Das Muster ist auch im Wappen des Ortes Neualbenreuth zu finden, das von Form und Motiv des Egerer und des Waldsassener Wappens beeinflusst wurde. Eigentlich nur für den Übergang gedacht, hatte die Regelung der geteilten Herrschaft in voller Form über 250 Jahre Bestand. Zu bröckeln begann die Fraisch erst Anfang des 19. Jahrhunderts. Durch die Säkularisation des Klosters im Jahr 1803 fiel das Gebiet, das ehemals der Kurpfalz unterstand, zurück an die bayerische Krone. Die nahm 1807 Verhandlungen über eine Rückführung des Gebiets und über eine genau Grenze zum Königreich Böhmen auf. Zu einem ersten Vertrag kam es am 20. Juli 1846 in München. Darin wurde festgeschrieben, dass Altalbenreuth, Gosel, Neumugl, Schönlind und Boden an Böhmen fallen sollten, die Dörfer Neualbenreuth, Schachten, Querenbach, Altmugl, Ernestgrün, Ottengrün Hardeck und Mammersreuth an Bayern. Zum endgültigen Abschluss der Verhandlungen kam es am 24. Juli 1862.
Noch heute erinnert man sich an die Zeit der Fraisch als Phase des Wohlstands und kulturellen Austausches. Diesen Sommer jährt sich der Rezess zum 425. Mal. Aus diesem Anlass findet in Neualbenreuth am 25. und 26. Juni ein Festwochenende mit Gottesdiensten, geschichtlichen Vorträgen und Theatereinlagen statt. Den Höhepunkt bildet der nachgestellte Wechsel der Blutgerichtsbarkeit, bei dem die Darsteller Teile auch auf Tschechisch vortragen werden. Ort des nachgestellten Rituals wird wie damals der Marktplatz bei der Kirche sein. Sie wird im Volksmund auch „Dom der Fraisch“ genannt.
„Wie 1938“
30 Jahre PZ