Ein drängendes Problem

Ein drängendes Problem

Die Jugendarbeitslosigkeit ist in Tschechien angekommen. Politiker und Initiativen suchen nach Lösungen. Nötig hat diese vor allem Nordböhmen

17. 7. 2013 - Text: Martin NejezchlebaText und Foto: Martin Nejezchleba

Lukáš Krupička würde fast jeden Job annehmen. Er zupft an seiner schwarzen Kappe, streift sich durch seinen Zehn-Tage-Bart. Auf einen Zettel kritzelt er zwei Telefonnummern: „Bei mir wird es langsam brenzlig, bald bekomme ich kein Arbeitslosengeld mehr.“ Gearbeitet hat der 27-Jährige schon alles mögliche: als Koch, als Kellner, in Fabriken. Nirgends besonders lange. „Jetzt ist es nicht mehr wie früher, hier in Žatec gibt es keine Arbeit“, sagt Krupička. Wenn er früher einen Job verloren hätte, habe er ein paar Wochen später woanders angeheuert. Diese Zeiten seien vorbei, sagt Krupička und geht die Aushänge im Gang des Arbeitsamtes ein drittes Mal durch.

Keine Erfahrung, kein Job
Fragt man die Leiterin des Arbeitsamtes im nordböhmischen Žatec (Saaz) Eva Bartošová nach den großen Arbeitgebern in der Gegend, muss sie kurz nachdenken. „Große Auswahlverfahren, bei denen 30 Stellen besetzt werden, gibt es heute nicht mehr“, sagt Bartošová. Vor den Toren der Stadt, die vor allem für ihren Hopfen und ihr Bier bekannt ist, haben sich mehrere ausländische Firmen angesiedelt. Auf dem einstigen Militärflughafen befinden sich heute hochspezialisierte Produktionsstätten für japanische und amerikanische Technologieunternehmen. Panasonic ist Ende vergangenen Jahres jedoch aus Žatec abgezogen. Freie Stellen gibt es immer weniger. Im Kreis Louny, zu dem die Kleinstadt Žatec gehört, sind es derzeit 445. Auf jeden dieser Arbeitsplätze entfallen 15 Arbeitslose. Besonders stark betroffen sind dabei Jugendliche. „Wenn jemand keine Berufserfahrung hat, dann wollen ihn die Firmen nicht“, erklärt Marcela Kadlecová, die am Arbeitsamt in Žatec als Sachbearbeiterin für die Arbeitsvermittlung zuständig ist.

Beim Thema Jugendarbeitslosigkeit dachte man in Tschechien lange: Die ist woanders, in den Krisenländern, im Süden, in der Euro-Zone. Eine aktuelle Studie des Nationalen Bildungsamtes (NÚV) kommt nun zu einem anderen Schluss: Die Wirtschaftskrise habe das Interesse der Arbeitgeber an den Absolventen entscheidend verringert. Nachdem sich die Lage auf dem Arbeitsmarkt 2010 und 2011 etwas verbessert hatte, sei es im vorigen Jahr zu einer „sehr ausgeprägten Verschlechterung“ gekommen.

Perspektive: Soziale Unruhen
Das „vielleicht dringendste Problem in Europa“ – wie EU-Ratspräsident Herman Van Rompuy es nennt – ist in Tschechien angekommen. Mit einer Quote von knapp 20 Prozent liegt man zwar noch unter dem EU-Durchschnitt, seit der Wirtschaftskrise aber hat sich der Anteil der jungen Tschechen ohne Arbeit verdoppelt. Inzwischen spricht man auch im Prager Arbeitsministerium von einer „drängenden Situation“. In ihrem neuesten Bericht zählt die Internationale Arbeitsorganisation ILO Tschechien zu den Ländern, in denen soziale Unruhen drohen – auch wegen der wachsenden Zahl perspektivloser Jugendlicher.

Schritt für Schritt
Mit dem postsozialistischen Wandel der Wirtschaft hat sich auch der tschechische Arbeitsmarkt verändert. Es entstanden neue Branchen wie IT oder Rechtsberatung, in denen vor allem frische Absolventen arbeiteten – schließlich waren sie die einzigen, die eine entsprechende Ausbildung vorweisen konnten. Seit vier Jahren seien die goldenen Zeiten vorbei, erklärt Filip Pertold, Arbeitsmarktexperte beim Thinktank IDEA.

Mit der Rezession kam der Einstellungsstopp. Berufseinsteiger trifft das am härtesten. Auch die Sparpolitik der gestürzten Mitte-Rechts-Regierung, so Pertold, habe die Unsicherheit bei den tschechischen Firmen erhöht. Das Kernproblem allerdings sieht der Ökonom an einer anderen Stelle: Die finanzielle Last für die Arbeitgeber – und damit das Risiko, das sie pro Angestellten tragen – sei in Tschechien viel zu hoch. Die Lohnnebenkosten müssten unbedingt gesenkt werden.

Ein weiterer Faktor: Die tschechischen Mittelschulen bringen viele Absolventen hervor, die entweder völlig praxisfern ausgebildet wurden, oder Spezialisierungen vorweisen, die auf dem Arbeitsmarkt kaum gefragt sind – junge Leute wie Pavel Beer. Er stammt aus Louny und hat ein Fachabitur mit Ausrichtung auf Schienenverkehrswesen. Eine Arbeit bei der Bahn gab es für ihn nicht. Der hagere 23-Jährige mit der Stoppelfrisur ließ sich zum Schweißer umschulen. Erst fand er einen Job. Für einen Monat. Dann meldete sein Arbeitgeber Bankrott an. Seit zwei Jahren sucht Beer nun Arbeit – vergeblich. „Ständig abgelehnt zu werden, ist deprimierend“, sagt er und lässt die Schultern hängen.

Mithilfe des Projekts „Krok Ke Kariéře“ („Schritt zur Karriere“) will Beer neue Motivation und endlich eine Arbeit finden. „Der Arbeitsmarkt hier ist wirklich beschränkt“, erklärt die Projektmanagerin Irena Blahoutová, „Absolventen mit allgemeiner Ausbildung sprudeln nur so aus den Schulen. Die Firmen aber verlangen praktische Erfahrung und die hat kaum jemand.“ Blahoutová und ihr Team versuchen die Jugendlichen auf den Kampf um die wenigen Stellen vorzubereiten: In Praktika sollen die Arbeitslosen erste Erfahrungen sammeln, in Workshops lernen sie, wie man in Vorstellungsgesprächen überzeugt.

„Krok Ke Kariéře“ ist eines der Projekte, die das Prager Arbeitsministerium zum Kampf gegen die Jugendarbeitslosigkeit aus EU-Geldern fördert. Weitere Maßnahmen: Für Unternehmen, die eine Stelle für junge Arbeitssuchende schaffen, gibt es Zuschüsse von bis zu 900 Euro im Monat. Derzeit läuft auch das Pilotprojekt „Pospolu“ an. Es soll Partnerschaften zwischen Fachoberschulen und Unternehmen fördern und Jugendliche praxisnah ausbilden.

Alles was greifbar ist
Auch Irena Blahoutová will junge Arbeitslose an die Berufspraxis heranführen. Im Seminarraum in Žatec läuft gerade der Englischunterricht. Der Ton der Lektorin ist zackig, der Unterricht frontal, das Niveau niedrig. Mit dem englischen Imperativ tut sich Pavel Beer schwer. Besonders praxisnah wirkt das alles nicht. Erst die Grundlagen, dann berufsspezifische Konversation, erklärt die Lektorin.

Am Ende der insgesamt sechsmonatigen Schulung steht im Idealfall eine Festanstellung. Seit Anfang des Jahres sind laut Blahoutová drei der Teilnehmer vermittelt worden, zwei staatlich bezuschusste Stellen werden gerade vom Ministerium geprüft, zwei konnten bereits geschaffen werden. Eigentlich schult man auf administrative Jobs hin, aber in der Praxis wird alles vermittelt, was greifbar ist. Auf dem Arbeitsamt in Žatec zeigt man sich eher skeptisch gegenüber solcher Kurse. „Es wurden bereits so viele Leute auf die gleichen Berufe umgeschult, dass es auf dem Markt kaum Interesse mehr an ihnen gibt“, erklärt Sachbearbeiterin Kadlecová.

Kamila Rysová ist heilfroh, dass es bei ihr geklappt hat. In einem umgebauten Wohnhaus mit rissiger Fassade sitzt die 24-Jährige vor einem Flachbildschirm. Für eine Grafik-agentur gestaltet sie Etiketten und Firmenbroschüren – ihre Stelle wird mit knapp 580 Euro im Monat bezuschusst. Fünf Monate ohne Arbeit möchte Rysová nicht noch einmal erleben: „Ich muss lernen, ich stehe ganz am Anfang und glaube nicht, dass ich zu Hause sitzen sollte.“ Es sind kleine Unternehmen wie die Werbeagentur auf dem Dorfplatz von Dobroměřice, auf die die Arbeitsvermittler in der Region setzen. Rysová lächelt. Sie ist sich sicher: Auch wenn die Zuschüsse auslaufen, ihre Stelle bleibt. Nordböhmens Strukturschwäche allerdings auch.