Ein Ausweg aus dem Betonlabyrinth

Ein Ausweg aus dem Betonlabyrinth

Im alten Schloss von Horní Počernice kümmern sich Sozialarbeiter um Familien in Not. Ein Besuch am Stadtrand 

23. 9. 2015 - Text: Katharina WiegmannText und Foto: Katharina Wiegmann

Die letzte Station der Prager U-Bahn-Linie B in Černý Most fühlt sich ein bisschen an wie das Ende der Welt. Die Brücken und Plateaus, mehrspurige Straßen, hohe Plattenbauten und das riesige Einkaufszentrum bilden ein Labyrinth aus Beton, aus dem es kein Entkommen zu geben scheint. Einen Ausweg bietet die Buslinie 273 nach Horní Počernice. Nach weniger als zehn Minuten Fahrt Richtung Stadtgrenze werden die Häuser kleiner und die Straßen schmaler. Die Familien, die auf dem Weg zum Christlichen Hilfszentrum Horní Počernice sind, atmen vermutlich erst einmal tief durch, wenn sie an der Haltestelle Třebešovská aussteigen. Kein Straßenlärm. Eine Ahnung von Ruhe und Frieden.

Auf dem Teich vor dem ehemaligen Stadtschloss drehen Enten ihre Runden. Seit 1999 dient das Areal in Prag 20 als Unterkunft für Familien in Not. Nur drei Heime dieser Art gibt es in der Hauptstadt. Das in Horní Počernice ist das einzige, das auch größere Familien mit bis zu sechs Kindern aufnimmt – und auch von Obdachlosigkeit bedrohte alleinerziehende Väter. Die Unterkunft fülle eine Lücke im Hilfsangebot, das sich oft nur an Mütter und Kinder richte, erklärt Gabriela Selingerová, die in Horní Počernice Besucher empfängt und Gelder für das Heim beschafft.

Lukáš ist der Beweis dafür, dass es richtig und wichtig ist, die Männer einzubeziehen. Der 28-Jährige ist nicht der leibliche Vater von Klaudie, dem kleinen Mädchen, das strahlend auf seinem Schoß sitzt. Während des Gesprächs wird er sich liebevoll um sie kümmern, hinter ihr aufräumen, sie mit Keksen füttern. Klaudie ist die Tochter der Schwester seiner Freundin Petra. Die Schwester sei drogenabhängig und momentan im Gefängnis, vielleicht für die nächsten zwei Jahre, erzählt Lukáš. Er und Petra haben das Sorgerecht für Klaudie und Petr, deren älteren Bruder, der schon zur Schule geht. Eine normale Grundschule, betont Lukáš, keine der Sonderschulen, auf die Roma-Kinder oft geschickt werden. Auch er war auf einer Regelschule.

Kein Paradies
Lukáš ist ein höflicher junger Mann mit einem schüchternen Lächeln, der offenbar für seine kleine Familie da ist. Er hat Arbeit, verpackt im Schichtdienst Pakete bei einem Internet-Versandhaus. Und trotzdem: Eine Wohnung findet er in Prag nicht. Zuletzt haben Petra, er und die Kinder sich ein 15-Quadratmeter-Zimmer in einer heruntergekommenen Herberge unweit der U-Bahn-Station Rajská zahrada (auf Deutsch: Paradiesgarten) in der Siedlung Černý Most geteilt – mit vier Mitbewohnern, die zum Teil Drogen konsumiert hätten, wie Lukáš erzählt. Keine Umgebung für Kinder, schon gar kein Paradies. Petra und Lukáš wollten dort raus und wandten sich an die Sozialarbeiter in Horní Počernice, wo Petra vor sechs Jahren schon einmal untergekommen war.

„Unsere Klienten finden uns oft selbst“, sagt Marketá Viehmannová, die seit zwei Jahren Sozialarbeiterin im Heim ist. Manche würden auch von den Sozialämtern der Stadtteile geschickt. Staatliche Stellen steuerten 2014 insgesamt 85 Prozent des Budgets zum Betrieb des Heimes bei. „Für Workshops und Aktivitäten mit Kindern gibt es genug Geld. Uns steht aber viel zu wenig für die Infrastruktur zur Verfügung“, erklärt Selingerová. Es ist ihr sichtlich unangenehm, Gästen den Teil des Areals zu zeigen, auf dem die bis zu 84 Klienten untergebracht sind.

Fußballtore und Schafe
Ein langgestrecktes unverputztes Gebäude, das an eine Militärbaracke erinnert, beherbergt die Familien. Die Zimmer sind zwar geräumig, sauber und hell, auch die Gemeinschaftsküche ist einladend. Am Eindruck des Provisorischen kann das alles jedoch nichts ändern. Zwei weitere Häuser werden von alleinerziehenden Müttern und ihren Kindern bewohnt, an einem wurde eine zerbrochene Fensterscheibe durch zwei Pressspanplatten ersetzt, für die Reparatur fehlen die Mittel. Im Treppenhaus ist es dunkel und stickig. Für Problemfälle aus dem Stadtteil hat ein Bauunternehmen zwei rote Container zur Verfügung gestellt. Immerhin haben sie ein kleines Fenster, das ist der einzige Luxus. Lukáš fühlt sich mit seiner Patchwork-Familie trotzdem wohl im von der methodistischen Kirche gegründeten Heim. Hinter der Unterkunft befindet sich ein Spielplatz für die Kinder, auf einer Wiese stehen Fußballtore. Dazwischen weiden Schafe.

Ein Jahr können die Klienten bleiben, dann müssen sie versuchen auf eigenen Beinen zu stehen. Die Sozialarbeiter erstellen kurz nach der Ankunft mit allen Bewohnern Pläne, die sie auf die Zeit nach dem Heim vorbereiten sollen. „Das sind oft kleine Schritte“, erklärt Viehmannová. „Manche müssen lernen, wie man mit Geld umgeht, andere, wie man ein Zimmer in Ordnung hält oder wie man in einer Beziehung kommuniziert.“ Viele erwachsene Bewohner haben eine schwierige Kindheit hinter sich und nie funktionierende Familienstrukturen erlebt. Auch Lukáš ist in einem Heim aufgewachsen, nachdem seine Eltern obdachlos wurden. Der Kontakt zu ihnen verlor sich irgendwann. Seine Geschichte erzählt er mit einem Seufzen, aber sachlich, ohne zu dramatisieren. Heime, Sozialämter, die Abhängigkeit vom guten Willen anderer. Das ist seine Normalität. „Geld haben wir eigentlich meistens genug, das ist nicht das Problem“, sagt der junge Ziehvater. „Aber sobald Vermieter sehen, dass wir Roma sind, ist die Wohnung auf einmal vergeben.“ Auch das zuständige Sozialamt habe die Suche nach einer Bleibe für die Familie irgendwann einfach eingestellt.

Ein wenig Normalität
Selingerová glaubt Lukáš; für sie ist das keine ungewöhnliche Geschichte. 64 Prozent der Heimbewohner im letzten Jahr waren Roma. „Diskriminierung ist ein großes Problem bei der Wohnungssuche. Und die Kriterien für die Vergabe von Sozialwohnungen sind höchst undurchsichtig, manche rutschen einfach irgendwann von der Liste.“ Sie kritisiert, dass die Stadt nicht mehr Unterkünfte für sozial Benachteiligte bauen lässt oder zur Verfügung stellt. Ebenso wenig hat sie Verständnis dafür, dass die Behörden die Lücke oftmals von privaten Geschäftemachern füllen ließen, die einen finanziellen Vorteil aus der Notlage der Familien zögen.

Auch die Unterkunft in Horní Počernice ist für die Bewohner nicht kostenlos. Erwachsene zahlen 70 Kronen am Tag, für die Kinder werden 40 Kronen berechnet. Damit deckten die Bewohner im vergangenen Jahr 14 Prozent der Betriebskosten des Heims selbst. Es geht aber nicht nur darum, dass sie ein Dach über dem Kopf haben. Vor allem für die Kinder soll die Unterkunft ein Ort sein, an dem sie sich wohl und sicher fühlen, ein wenig Normalität erleben können. Selingerová zeigt das Spielzimmer, in dem sich Bücher und Bastelsachen bis unter die Decke stapeln. Im Keller gibt es einen mit Schlagzeug und Klavier ausgestatteten Musikraum, den die Bewohner nutzen können. Außerdem ist den Sozialarbeitern in Horní Počernice der Kontakt mit der Außenwelt wichtig, mit den Bewohnern des Stadtteils. Selingerová zeigt den Raum, der den Seniorenstammtisch des Viertels beheimatet. An der Wand hängt eine gelbe Blume aus Pappe, von deren Blütenblättern die Gesichter der älteren Herrschaften strahlen. Manchmal basteln sie hier mit den Kindern der Bewohner.

Natürlich ist nicht immer alles eitel Sonnenschein am grünen Prager Stadtrand. Jede Familie bringt ihre Probleme mit, bei der gemeinsamen Nutzung von Küchen und Bädern kommt es schon mal zu Konflikten. Die Klienten, wie Selingerová und Viehmannová die Bewohner nennen, müssen im Heim ein striktes Regelsystem akzeptieren. Alkohol und Drogen sind tabu, in den Innenräumen darf nicht geraucht werden. Bei Gewalt gibt es keine Toleranz. Und für die Väter gilt: Sie müssen arbeiten, ansonsten erhalten sie keinen Platz. Einmal in der Woche treffen sich alle Bewohner, um Aktuelles zu besprechen, dieser Termin ist verpflichtend. Wird zu oft gegen die Regeln verstoßen, sind die Sozialarbeiter strikt – es kommt auch vor, dass Klienten das Heim verlassen müssen. Was mit den Bewohnern nach ihrem Aufenthalt passiert, erfahren Viehmannová, Selingerová und ihre Kollegen nur selten. „Manche kommen nach einer Weile zurück oder wir erfahren über Verwandte, was mit ihnen passiert ist. Manche finden eine Arbeit und eine Wohnung. Aber von den meisten hören wir nichts mehr.“ Hoffentlich sind es nur wenige, die anschließend im Betonlabyrinth verloren gehen.