Ein aktuelles Blatt

Ein aktuelles Blatt

Kafkas Parabel aus dem alten China lässt uns Heutige frösteln

20. 1. 2016 - Text: Josef FüllenbachText: Josef Füllenbach; Bild: APZ

Es lohnt, sich hin und wieder in die Prosa Franz Kafkas zu vertiefen. Vertrautes wieder und vielleicht aus neuem Blickwinkel zu lesen, bislang Unbekanntes oder nach langen Jahren Vergessenes neu zu entdecken. Es dauert meist nicht lange, bis sich dem Leser die fortdauernde Aktualität der Schriften Kafkas erschließt. Doch selten kommt es vor, dass man beim Lesen eines Fragments, einer Erzählung, eines Briefes oder eines Tagebucheintrags schon nach wenigen Zeilen unweigerlich in den Bann geschlagen wird und das Stück in einem Zuge zu Ende liest und dann zur Vergewisserung, nicht etwa geträumt zu haben, das Ganze noch einmal Zeile für Zeile durchgeht. Solch ein seltener Fall ist in diesen Wochen und Monaten ohne jeden Zweifel die Lektüre der Erzählung „Ein altes Blatt“, deren Aktualität wie kaum ein anderer Text dem Leser den Atem verschlägt.

Das Stück gehört zu dem Wenigen, das Kafka zu seinen Lebzeiten veröffentlichte. Er muss es also selbst im Gegensatz zu dem Meisten, das er zu Papier brachte als lesens- und mitteilenswert für andere betrachtet haben. Den vielen, zum Teil weit auseinanderliegenden Deutungen soll jedoch hier keine weitere hinzugefügt werden. Stattdessen mögen einige Hinweise zur Entstehungsgeschichte und zum Hintergrund helfen, das düster-rätselhafte Stück Prosa in seinen Kontext einzuordnen.

Zerfall des Alten
Kafka verfasste die Erzählung im März 1917 im Häuschen Nr. 22 im Goldenen Gässchen, das seine Schwester Ottla im November 1916 gemietet hatte. Dorthin zog sich Kafka bis zum Sommer 1917 fast täglich am frühen Nachmittag zurück, um bis in die Nachtstunden, nicht selten sogar bis zum frühen Morgen, in Ruhe schreiben zu können. Es war eine vergleichsweise produktive Phase; fast alle Erzählungen, die 1920 in dem Sammelband „Ein Landarzt“ im Kurt Wolff Verlag erschienen, darunter auch „Ein altes Blatt“, sind hier entstanden.

Diese Schaffensperiode fiel mit dem dritten Kriegswinter zusammen. Dieser war besonders hart – nicht nur aufgrund der extremen Fröste, sondern mehr noch wegen der nun voll durchschlagenden kriegsbedingten Entbehrungen. Kafka-Biograph Reiner Stach bringt es auf die Formel: „Ein wohlhabender und mächtiger Staat in der Mitte Europas, ein Staat mit glanzvoller Geschichte und imperialen Ambitionen, war nicht mehr in der Lage, seine Bürger satt zu machen. (…) Die Menschen fanden sich ausgesetzt in einer Wolfsgesellschaft, in der Fleiß, Sparsamkeit und Loyalität nicht mehr belohnt wurden. Gefragt waren stattdessen soziale Schläue und dreistes Durchsetzungsvermögen, Flexibilität und beste Beziehungen. Das aber bedeutete die Auflösung, ja geradezu die Umkehrung des bürgerlichen Wertesystems – eine moralische Katastrophe, die Angst und Verzweiflung erregte.“

Ein Menetekel war der Tod des alten Kaisers Franz Joseph I. Ende November 1916, der unvorstellbare 68 Jahre lang das Reich regiert hatte. Und während kaum noch jemand an einen glücklichen Ausgang des Krieges glaubte, verstärkte sich das Wetterleuchten über der Doppelmonarchie, der soziale Umbruch war durch den Krieg beschleunigt, die zentrifugalen Tendenzen im Vielvölkerstaat ließen sein Auseinanderbrechen schon ahnen. Also rundum Not und Tod, Anzeichen von Zerfall des Alten und die Ungewissheit, was an die Stelle der „Welt von Gestern“ treten soll.

Nach Stach erlebte Kafka „diese Ereignisse als Zeichen einer irreversiblen Auflösung“. Aber er bezog daraus auch neue Kraft: Wenn nichts mehr so bleibt, wie es ist, dann kann es auch nicht mehr so weitergehen, dann sieht er sich gezwungen, neue Kräfte zu entfesseln „und mit ihnen einen Strom von Bildern und Ideen“. So kann es kaum Zufall gewesen sein, dass die Erzählung „Ein altes Blatt“, in der am Schluss der Kaiser selbst nur schemenhaft ans Fenster tritt, wenige Tage nach der Abdankung des Zaren in Sankt Petersburg entstand, dem Ende der 300-jährigen Herrschaft der Romanow-Dynastie.

Die von Kafka ursprünglich gewählte Überschrift war „Ein altes Blatt aus China“. Im handschriftlichen Manuskript schloss der Text unmittelbar an das erst posthum veröffentlichte Fragment „Beim Bau der chinesischen Mauer“ an. Der Zusammenhang zwischen den beiden Erzählungen liegt auf der Hand. In beiden Fällen spielen die nomadischen Reitervölker aus dem Norden eine zentrale Rolle, zunächst „Beim Bau der chinesischen Mauer“ vor allem als eine reale Bedrohung, die es durch ein unermesslich aufwändiges Verteidigungsbauwerk abzuwehren galt, während sie in „Ein altes Blatt“ bereits bis in die Mitte des Reiches vorgestoßen sind und auf keinerlei Abwehr mehr stoßen: „Vor ihrem Zugriff tritt man beiseite und überlässt ihnen alles.“

Lücken in der Mauer
Und noch ein Aspekt verbindet beide Erzählungen. Die „Nomaden aus dem Norden“ sind auf eine dem Schuster-Erzähler aus „Ein altes Blatt“ „unbegreifliche Weise bis in die Hauptstadt gedrungen, die doch sehr weit von der Grenze entfernt ist“. Das Fragment „Beim Bau der chinesischen Mauer“ könnte dem Schuster dazu eine überraschende Erklärung anbieten: Die Mauer wurde in einzelnen, aber nicht zusammenhängenden Abschnitten errichtet. „Natürlich entstanden auf diese Weise viele große Lücken, die erst nach und nach langsam aufgefüllt wurden, manche sogar erst, nachdem der Mauerbau schon als vollendet verkündigt worden war. Ja es soll Lücken geben, die überhaupt nicht verbaut worden sind, nach manchen sind sie weit größer als die erbauten Teile (…). Wie kann aber eine Mauer schützen, die nicht zusammenhängend ist.“

Und schließlich stoßen wir in beiden Erzählungen auf eines der wichtigsten, von Kafka in vielen seiner Werke immer wieder variierten Motive, nämlich die unerklärliche Ferne, die Unnahbarkeit der obersten Macht, hier die Unerreichbarkeit des Kaisers, der „immer nur … in dem innersten Garten (lebt)“. Das Kaisertum gehört sogar, wie es „Beim Bau der chinesischen Mauer“ heißt, „zu unsern allerundeutlichsten Einrichtungen“, das Volk „weiß nicht, welcher Kaiser regiert und selbst über den Namen der Dynastie bestehen Zweifel“; schließlich wäre man mit der Folgerung, „daß wir im Grunde gar keinen Kaiser haben, … von der Wahrheit nicht weit entfernt.“

Ausgehend von Motiven, die dem chinesischen Schauplatz in ferner Vergangenheit entlehnt sind, hat Kafka offenbar fabulierend, assoziierend Metaphern gebildet, mit denen er den Auflösungserscheinungen und der Orientierungslosigkeit in seiner ringsum vom Unheil bedrohten Welt auf die Spur kommen und Ausdruck verleihen wollte. Mit „Ein altes Blatt“ hat er zudem eine bedrückende Parabel von Zerfall, Überwältigung und Untergang geschaffen, eines Geschehens, das so oder ähnlich an vielen Schauplätzen und zu vielen Zeiten erlebt und erlitten wurde. Was sagt uns Heutigen diese Parabel? Das möge jeder Leser für sich selbst entscheiden. Doch vermutlich werden wir nicht die letzten sein, denen es beim Lesen dieses Textes ein wenig fröstelt.


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EIN ALTES BLATT l Von Franz Kafka

Es ist, als wäre viel vernachlässigt worden in der Verteidigung unseres Vaterlandes. Wir haben uns bisher nicht darum gekümmert und sind unserer Arbeit nachgegangen; die Ereignisse der letzten Zeit machen uns aber Sorgen.

Ich habe eine Schusterwerkstatt auf dem Platz vor dem kaiserlichen Palast. Kaum öffne ich in der Morgendämmerung meinen Laden, sehe ich schon die Eingänge aller hier einlaufenden Gassen von Bewaffneten besetzt. Es sind aber nicht unsere Soldaten, sondern offenbar Nomaden aus dem Norden. Auf eine mir unbegreifliche Weise sind sie bis in die Hauptstadt gedrungen, die doch sehr weit von der Grenze entfernt ist. Jedenfalls sind sie also da; es scheint, daß jeden Morgen mehr werden.

Ihrer Natur entsprechend lagern sie unter freiem Himmel, denn Wohnhäuser verabscheuen sie. Sie beschäftigen sich mit dem Schärfen der Schwerter, dem Zuspitzen der Pfeile, mit Übungen zu Pferde. Aus diesem stillen, immer ängstlich rein gehaltenen Platz haben sie einen wahren Stall gemacht. Wir versuchen zwar manchmal aus unseren Geschäften hervorzulaufen und wenigstens den ärgsten Unrat wegzuschaffen, aber es geschieht immer seltener, denn die Anstrengung ist nutzlos und bringt uns überdies in die Gefahr, unter die wilden Pferde zu kommen oder von den Peitschen verletzt zu werden.

Sprechen kann man mit den Nomaden nicht. Unsere Sprache kennen sie nicht, ja sie haben kaum eine eigene. Untereinander verständigen sie sich ähnlich wie Dohlen. Immer wieder hört man diesen Schrei der Dohlen. Unsere Lebensweise, unsere Einrichtungen sind ihnen ebenso unbegreiflich wie gleichgültig. Infolgedessen zeigen sie sich auch gegen jede Zeichensprache ablehnend. Du magst dir die Kiefer verrenken und die Hände aus den Gelenken winden, sie haben dich doch nicht verstanden und werden dich nie verstehen. Oft machen sie Grimassen; dann dreht sich das Weiß ihrer Augen und Schaum schwillt aus ihrem Munde, doch wollen sie damit weder etwas sagen noch auch erschrecken; sie tun es, weil es so ihre Art ist. Was sie brauchen, nehmen sie. Man kann nicht sagen, daß sie Gewalt anwenden. Vor ihrem Zugriff tritt man beiseite und überläßt ihnen alles.

Auch von meinen Vorräten haben sie manches gute Stück genommen. Ich kann aber darüber nicht klagen, wenn ich zum Beispiel zusehe, wie es dem Fleischer gegenüber geht. Kaum bringt er seine Waren ein, ist ihm schon alles entrissen und wird von den Nomaden verschlungen. Auch ihre Pferde fressen Fleisch; oft liegt ein Reiter neben seinem Pferd und beide nähren sich vom gleichen Fleischstück, jeder an einem Ende. Der Fleischhauer ist ängstlich und wagt es nicht, mit den Fleischlieferungen aufzuhören. Wir verstehen das aber, schießen Geld zusammen und unterstützen ihn. Bekämen die Nomaden kein Fleisch, wer weiß, was ihnen zu tun einfiele; wer weiß allerdings, was ihnen einfallen wird, selbst wenn sie täglich Fleisch bekommen.

Letzthin dachte der Fleischer, er könne sich wenigstens die Mühe des Schlachtens sparen, und brachte am Morgen einen lebendigen Ochsen. Das darf er nicht mehr wiederholen. Ich lag wohl eine Stunde ganz hinten in meiner Werkstatt platt auf dem Boden und alle meine Kleider, Decken und Polster hatte ich über mir aufgehäuft, nur um das Gebrüll des Ochsen nicht zu hören, den von allen Seiten die Nomaden ansprangen, um mit den Zähnen Stücke aus seinem warmen Fleisch zu reißen. Schon lange war es still, ehe ich mich auszugehen getraute; wie Trinker um ein Weinfaß lagen sie müde um die Reste des Ochsen.

Gerade damals glaubte ich den Kaiser selbst in einem Fenster des Palastes gesehen zu haben; niemals sonst kommt er in diese äußeren Gemächer, immer nur lebt er in dem innersten Garten; diesmal aber stand er, so schien es mir wenigstens, an einem der Fenster und blickte mit gesenktem Kopf auf das Treiben vor seinem Schloß.

„Wie wird es werden?“ fragen wir uns alle. „Wie lange werden wir diese Last und Qual ertragen? Der kaiserliche Palast hat die Nomaden angelockt, versteht es aber nicht, sie wieder zu vertreiben. Das Tor bleibt verschlossen; die Wache, früher immer festlich ein- und ausmarschierend, hält sich hinter vergitterten Fenstern. Uns Handwerkern und Geschäftsleuten ist die Rettung des Vaterlandes anvertraut; wir sind aber einer solchen Aufgabe nicht gewachsen; haben uns doch auch nie gerühmt, dessen fähig zu sein. Ein Mißverständnis ist es, und wir gehen daran zugrunde.“