„Die Skepsis äußern die Tschechen mit Boykott“
Politologe Robert Schuster über erstaunlich EU-freundliche Prognosen und den Faktor Wahlbeteiligung
15. 5. 2014 - Text: PZText und Foto: PZ
Brüssel fürchtet sich vor dem Einmarsch der Rechtspopulisten aus Frankreich, Ungarn und den Niederlanden ins EU-Parlament – und die Tschechen finden sich in einer ungewohnten Rolle wieder. Hier wird ein klarer Wahlsieg europafreundlicher Parteien erwartet. Woher der Stimmungswandel rührt und warum das Politprojekt von Andrej Babiš auch in den Europawahlen punkten wird, darüber sprach PZ-Redakteur Martin Nejezchleba mit dem Politologen Robert Schuster.
Herr Schuster, aller Voraussicht nach werden die kommenden Europawahlen im Zeichen der EU-Kritiker stehen. Inwiefern werden die tschechischen Wähler dazu beitragen?
Robert Schuster: Ich denke, dass das Spektrum der europa- und systemkritischen Parteien bei den Europawahlen in Tschechien traditionell sehr breit ist und diese Parteien sich gegenseitig Stimmen wegnehmen werden. Ich erwarte also, dass keine von diesen Gruppierungen den Sprung nach Brüssel beziehungsweise nach Straßburg schaffen wird. Vielmehr gehe ich davon aus, dass die parteipolitische Zusammensetzung der künftigen tschechischen EU-Abgeordneten im Großen und Ganzen den Ergebnissen der vorgezogenen Wahlen vom Oktober vergangenen Jahres entsprechen wird. Vielleicht werden nicht alle tschechischen Parlamentsparteien vertreten sein; die rechtspopulistische Úsvit-Partei etwa dürfte es schwer haben, über die Fünf-Prozent-Hürde zu kommen.
Frankreich hat Marine Le Pen, die Niederlande Geert Wilders, die Briten die „United Kingdom Independence Party“. Allgemein wird ein großer Erfolg der Anti-Europa-Bewegung erwartet. In Tschechien machen Parteien wie Úsvit zwar ordentlich Wind, aber wie Sie selbst gesagt haben, dürfte ihre Bedeutung in diesen Wahlen gering bleiben. Gilt das Bild der Tschechen als Euroskeptiker nicht mehr?
Ich denke, dass sich die Skepsis gegenüber der EU auch so äußern kann, dass man einfach nicht wählen geht und die Europawahlen boykottiert. Die ODS, die die europaskeptische Fahne hochhalten könnte, liegt immer noch am Boden und sie wird wohl froh sein, wenn sie ihr Ergebnis vom letzten Herbst ein wenig verbessern kann. Tatsache ist aber auch, dass die ODS in den vergangenen fünf Jahren als Mitglied der europakritischen ERC-Fraktion nicht sonderlich viel bewegen konnte.
Die Meinungsforschungsagentur STEM prophezeit eine Wahlbeteiligung von 35 Prozent, das wäre ein deutlicher Zuwachs. 2009 gaben nur etwa 28 Prozent ihre Stimme ab. Ist das Interesse an Brüssel gestiegen, oder liegt STEM falsch?
Die Wahlbeteiligung wird wichtig für das Gesamtergebnis sein – sie könnte etwa den Grünen oder den Christdemokraten helfen – beziehungsweise schaden. Mich würde interessieren, wo STEM diese Zahlen überhaupt her hat. Vielleicht kann der jetzige Konflikt zwischen Russland und der Ukraine in irgendeiner Weise mobilisierend wirken, aber ein prognostizierter Anstieg von sieben Prozent? Das kann ich nicht ganz nachvollziehen.
STEM räumt in puncto Wahlbeteiligung mögliche Ungenauigkeiten ein, weil viele der Befragten unentschlossen waren, ob sie zur Wahl gehen oder zuhause bleiben werden. Prognosen anderer Institute rechnen mit einer Beteiligung um die 28 Prozent. Bei allen jedoch gilt die Regierungspartei ANO als Favorit. Warum spricht die politische Bewegung des Milliardärs Andrej Babiš so viele Leute an?
Ich denke, dass das stark mit ihrer Selbstdarstellung zusammenhängt. Sie hebt sich von den klassischen Parteien ab, indem sie sich als Experten-Bewegung in Szene setzt. Das kommt immer noch gut an, auch weil sich nach der kurzen Regierungszeit nicht sagen lässt, ob ANO irgendwelche Schwachstellen hat. Wichtig ist, dass ANO nach außen hin geeint wirkt und ihre Konflikte nicht offen austrägt – das schätzen nicht nur die tschechischen Wähler.
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