„Die Menschen zuerst“

Zum zweiten Mal findet das „reSITE“-Festival für kollaborative urbane Gestaltung statt. Der Gründer Martin Barry kam als Landschaftsarchitekt von New York nach Prag. Er fand, dass hier mehr über Stadtplanung geredet werden müsse
19. 6. 2013 - Interview: Stefan Welzel
Martin Barry, Anfang Vierzig, pendelt zwischen Städten, die wohl unterschiedlicher nicht sein könnten: Prag und New York. Er hat Architektur an der Karls-Universität unterrichtet und ist Gründer des „reSITE“-Festivals für Stadtplanung. Mit PZ-Redakteur Stefan Welzel sprach er über die tschechische Schüchternheit und heilige Kühe der Stadtarchitektur.
Herr Barry, das „reSITE“ ist ein neuartiges Festival. Um was geht es konkret?
Barry: Wir möchten die Gestaltung des öffentlichen Raumes populär thematisieren. Die internationale Konferenz soll die Lücke zwischen Experten und der Öffentlichkeit schließen. Die Idee, den Fokus vor allem auf die Räume rund um das zentrale Gewässer eines urbanen Gebietes zu legen – in Prag die Moldau – ist dabei neu und weltweit einzigartig.
Das Festival ist dem „Urban design“ gewidmet. Das klingt irgendwie abgehoben. Können Sie das genauer erklären?
Barry: Die Stadt muss für ihre Bewohner sinnvoll und aktiv gestaltet werden. Dafür braucht es moderne Architektur, gut durchdachte öffentliche Räume und schlaue Verkehrskonzepte. Auf unserem Festival möchten wir diese Thematik mit einem breiten Publikum diskutieren.
Sie sind Amerikaner. Warum haben Sie gerade in Prag dieses Festival ins Leben gerufen?
Barry: Ich war und bin immer noch als Landschaftsarchitekt in New York tätig. Von der vielen Arbeit und dem Alltagsstress brauchte ich eine Pause. Sie führte mich nach Europa. Hier lehrte ich an der Karls-Universität zwei Mal pro Woche und hatte daneben genügend Zeit für anderes. Bei den vielen anregenden Diskussionen mit Studenten kam bald die Idee auf, eine solche Veranstaltung auf die Beine zu stellen.
Welche Ziele verfolgen Sie damit?
Barry: Am wichtigsten ist es, die Vermittlerrolle zu stärken. Die Designer sind stets zwischen den Interessen der Politiker und der Investoren eingezwängt. Sie nehmen dort eine bedeutende Mittlerposition ein. Die möchte ich ausbauen, indem ich Bürger einbeziehe. Den Wert von mehr Teilhabe am Planungsprozess sehen inzwischen auch die Investoren. Auch in der Politik tut sich was.
Sie haben den neuen Interims-Oberbürgermeister Tomáš Hudeček eingeladen. Was erhoffen Sie sich?
Barry: Hudeček steht eindeutig für mehr Transparenz und Bürgerbeteiligung bei der Stadtplanung. Dass er jetzt im Amt ist, ist ein gutes Zeichen. Auf dem Festival wird er einen kurzen Vortrag halten. Ich möchte aber nicht involviert werden in politische Prozesse. Wir wollen in erster Linie die Diskussion anstoßen.
Im „reSITE“-Programm ist die Rede davon, dass man das Herausbilden von neuen Prioritäten für den Städtebau in Tschechien fördern wolle. Was meinen Sie damit?
Barry: Es geht um die Investition in Menschen, die ihre Umgebung mitgestalten wollen. Und um nachhaltige Planung. Dafür müssen die Bedürfnisse der Bürger miteinbezogen werden. Zur Zeit finden die meisten Planungen nur zwischen den beiden Akteuren Wirtschaft und Politik statt. Dabei kommen so gut wie nie gute Projekte heraus.
Auf welche Hürden stoßen Sie in Tschechien mit diesem Vorhaben?
Barry: Ich habe in den letzten zwei Jahren viel über die Tschechen gelernt. Einer meiner tschechischen Freunde bezeichnet seine Landsleute als sehr passiv und scheu. Das ist wohl ein Resultat aus der Geschichte des Landes. Diese Schüchternheit ist natürlich keine gute Voraussetzung für energisches Mitarbeiten und Eintreten für transparentere Stadtplanung. Aber es gibt natürlich noch viele andere Probleme.
Am Wenzelsplatz baut man lieber ein Haus mit zusätzlicher Shopping-Mall und vielen Parkplätzen als zum Beispiel eine Kultureinrichtung. Liegt der Fokus nicht zu stark auf der Ökonomie?
Barry: Ja, der Blick ist zu einseitig. Zweifelsohne muss man wirtschaftliche Aspekte und die Bedürfnisse von Investoren immer im Auge behalten. Aber das Prinzip muss sein: die Menschen zuerst.
Wie kann eine ausgewogene Stadtplanung, die alle Interessen einbezieht, in der Realität funktionieren?
Barry: Mit Herrn Hudeček geht es in eine gute Richtung. Er öffnet die Diskussion. Wichtigster Schritt aber ist, mehr internationale Reichweite zu erhalten. Projekte müssen grenzüberschreitend ausgeschrieben, diskutiert und Experten angehört werden. Außerdem bedarf es williger und starker politischer Persönlichkeiten. Keine im autoritären Sinne, sondern solche, die bereit sind, Risiken und Verantwortung auf sich zu nehmen.
Sie arbeiteten unter anderem auch in Saudi-Arabien und Dubai. Dort sind autoritäre Herrscher am Hebel, die die Bürger kaum mitreden lassen.
Barry: Ich bin und war mir dieser Problematik stets bewusst und hatte deswegen auch moralische Bedenken. Ich weiß um die Situation der Arbeiter dort. Doch aus beruflicher Sicht war die Chance einfach zu verlockend.
Kann man sagen, je höher der Grad an autoritärer Obrigkeit, desto größer die schöpferische Freiheit für den Stadtplaner?
Barry: Absolut. Jene autoritären Regime geben viel Geld aus, um die größten und prestigeträchtigsten Bauten zu realisieren. Und daran sind die führenden Experten weltweit beteiligt.
Was ist für einen Stadtdesigner interessant an der „fertigen“ historischen Stadt Prag?
Barry: Ich habe großen Respekt vor den historischen Gebäuden einer Stadt. Aber sie werden umso interessanter, je mehr man sie mit moderner Architektur kontrastiert. Denn die Städte verändern sich, die Menschen und Mentalitäten ändern sich und mit ihnen die Bedürfnisse. Es ist nicht gut, wenn man einfach nur auf Erhalt des Bestehenden aus ist und einen Ort für Touristen bietet.
Läuft Prag Gefahr, zum Museum zu werden?
Barry: Ganz eindeutig. Das ist aber bei vielen bekannten Metropolen so. Sogar New York ist davon bedroht. Ganz schlimm ist es in Paris. Die französische Hauptstadt verkommt in der Tat immer mehr zu einem riesigen Freilichtmuseum.
Wo besteht das größte Potential für die Prager Stadtentwicklung?
Barry: Mit Sicherheit an den Ufern der Moldau. Dort herrscht viel Handlungsbedarf. In den Straßen und auf den Plätzen könnte es noch grüner sein. Verkehrsberuhigte Orte als Ruheinseln sind ebenso wichtig.
Was müsste man im denkmalgeschützten Zentrum tun, um die Stadt lebenswerter zu machen und nicht nur den staunenden Touristen zu überlassen?
Barry: Im historischen Zentrum passiert nicht viel. In der Altstadt möchte und sollte man auch nicht viel ändern. In der Neustadt finde ich allerdings schon. Insgesamt gibt es dort viel Potenzial für neue, moderne Architektur und attraktive öffentliche Plätze, die den Menschen und ihren Bedürfnissen entsprechen.
Schauen Sie sich diese beiden Bilder an: hier der Wenzelsplatz, da die Uferpromenade zwischen Karlín und Libeň. Was würden Sie dort verändern?
Barry: Der untere Teil des Platzes ist nun eine Fußgängerzone. Leider eine, in der keine aktive Gestaltung ersichtlich ist. Wenn man eine Straße schließt, sollte man das konsequent tun. Man könnte den Asphalt dort zum Beispiel grün oder blau streichen. Das würde viel deutlicher markieren, dass der Ort für Flaneure gedacht ist. Die Blumenbeete in der Mitte sind unnötige Barrieren für die Fußgänger. Aber das größte Problem sind die Autos. Typisch für ganz Prag sind die rot-weißen Geländer entlang der Gehsteige. Die Information, die darin liegt, ist eindeutig: der Autoverkehr zuerst. Wenn solche Barrieren bestehen, weiß man sofort, dass etwas falsch gelaufen ist.
Und die Uferpromenade zwischen Karlín und Libeň?
Barry: Man bräuchte einen durchgehenden Weg entlang der Moldau für Spaziergänger wie Radfahrer bis hin zum Zoo. Da, wo der Fluss bei Libeň eine Kurve macht, könnten neue Wohnhäuser entstehen. Hier müssten sich private Investoren an der Uferneugestaltung finanziell beteiligen. Der Raum dort dürfte aber auf keinen Fall nur zur privaten Nutzung bestimmt sein. Entlang der Ufer ist auch Platz für den Fluss notwendig. Wie gerade erst gesehen, sind große natürliche Auffangbecken für das Flutwasser nötig – im Idealfall sind das öffentliche Parks.
Wird einmal die Zeit kommen, in der alte Baumonumente nicht mehr als heilige Kühe betrachtet werden?
Barry: Nicht wirklich. Schaut man zum Beispiel nach Rom, so erkennt man, wie wichtig die alten Ruinen für den Charakter der Stadt noch sind. Diese dürfen nicht verschwinden. Dasselbe gilt für Prag, das zwar nicht so alt ist wie Rom, aber doch über sehr viel historische Bausubstanz verfügt.
ReSITE-Festival
Seit 2012 widmet sich das Festival „reSITE“ dem urbanen Design. In Podiumsdiskussionen, Gesprächsrunden, Vorträgen und Workshops soll die Gestaltung des öffentlichen Raums beleuchtet werden. Im Fokus des Festivals stehen Uferflächen, zentrale Plätze und urbane Mobilität. Mit einem Diskussionsforum zu lokalen Energiefragen nimmt das „reSITE“ am Mittwoch, 19. Juni im Österreichischen Kulturforum seinen Auftakt. Es endet am 23. Juni mit der Vorführung von Andreas Dalsgaards Film „Human Scale“ über den dänischen Stadtplaner Jan Gehl auf dem Karlsplatz (Karlovo náměstí). Dazwischen bringen Veranstaltungen wie die „reSITE“-Konferenz im Kunstzentrum DOX oder Ausstellungen in mobilen Pavillons dem interessierten Publikum die Thematik Stadtplanung näher. Alle Veranstaltungen sind kostenfrei und für jedermann zugänglich.
Mehr Informationen unter www.resite.cz
Stadtführer in Not
Glückwunsch, Prag 4!