Die Flucht erklären

Die Flucht erklären

Akademiker wollen eine vernünftige Debatte über Migration. Am Tag der Menschenrechte starteten sie eine Online-Enzyklopädie

9. 11. 2016 - Text: Jan NechanickýText: Jan Nechanický; Foto: privat

Jakub Múčka ist ein ruhiger Mensch. Wir sitzen gemeinsam vor einem Seminarraum in der Karls-Universität, wo er auf eine Vorlesung in Philosophie wartet. Seine Antworten auf meine Fragen wirken überlegt und sachlich. Genau so sollte seiner Meinung nach die Debatte über Migration nach Europa aussehen. Nicht nur aus diesem Grund hat sich der 22-jährige Russistik-Student entschieden, etwas zu unternehmen. Am 12. Dezember, dem internationalen Tag der Menschenrechte, startet ein von ihm mitbegründetes Projekt: die erste tschechische Online-­Enzyklopädie über Migration.

Sie soll dazu beitragen, die emotional aufgeladene Debatte über Flüchtlinge zu beruhigen. Zahlreiche Wissenschaftler der Karls-Universität waren bereit, die Flucht nach Europa zu erklären. Es ist das bisher größte, „von unten“ aufgebaute Projekt, das sich hierzulande diesem Thema widmet. Gegründet hat es eine kleine Gruppe unzufriedener Studenten.

Am Anfang stand eine Reise an die serbisch-kroatische Grenze. Dort wollten die Studenten den wartenden Flüchtlingen helfen, mit ihnen sprechen, Näheres über ihr Schicksal erfahren. Für viele von ihnen war das ein Schlüsselerlebnis: die verwahrlosten, kranken und leidenden Menschen zu sehen und mit ihnen zu reden. Nachdem sie zurück nach Tschechien gekommen waren, gründeten sie im Oktober 2015 die „Studentische Bewegung für Solidarität“ (Studentské hnutí za solidaritu). Sie organisierten Bildungsprojekte an Schulen und hielten Vorträge. Als Studenten wollten sie aber vor allem das anwenden, was sie gelernt hatten: mit Informationen arbeiten, logisch argumentieren und sich dabei auf Fakten stützten. Davon erhofften sie sich, die aggressive Rhetorik in der Debatte über Migration zu beschwichtigen.

Ursprünglich wollten sie eine Broschüre erarbeiten, die wichtige Grundbegriffe der Flüchtlings­debatte erklärt. Später entstand die Idee einer Online-­Enzyklopädie, auf die jeder zugreifen kann. Die Studenten bildeten eine Arbeitsgruppe und begannen, sich mit ihren Dozenten darüber auszutauschen. Unter der Leitung von Múčka beschäftigen sich derzeit etwa 15 Personen mit dem Projekt, dutzende Autoren schreiben dafür. Neben Politologen, Arabisten oder Historikern arbeiten auch Sozial­wissenschaftler, Theo­logen, ­Juristen und Philosophen mit. Die Texte verfasst meistens ein Student, später redigiert sie ein Dozent des Fachbereichs.

Breit gefasste Analysen
Es entwickelte sich ein Projekt, das über mehrere Jahre laufen soll. Die Akademiker und Studenten wollen das Thema nun viel breiter erfassen und ihre Plattform jedes Jahr aktualisieren. Je nachdem, aus welchen Ländern die Menschen nach Europa kommen, entstehen entsprechende Artikel. Das Projekt soll sich nicht bloß um die aktuelle Flüchtlingssituation drehen, sondern auch profunde und historisch breitgefasste Analysen der Regionen liefern, aus denen die Menschen flüchten.

In ihrer Gestalt erinnert die Plattform an Wikipedia. „Auch die Enzyklopädie über Migration kann ständig erweitert werden. Wenn einmal das Gerüst fertig ist, kann es beinahe unendlich mit Inhalt gefüllt werden“, erklärt Múčka.

Dennoch überwiegen die Unterschiede. Jeder Text, der für das Projekt entsteht, muss vor der Veröffentlichung autorisiert werden. Nicht jeder kann dafür schreiben – die Texte verfassen je nach Thema Fachleute von der Universität, Spezialisten von einer NGO oder renommierte Journalisten. Auch formal unterscheiden sich die Beiträge erheblich. Sie dürfen nicht zu lang und nicht zu ausschweifend sein, wie es manchmal in der freien Enzyklopädie oder auch in der Fachliteratur der Fall sei. In erster Linie sollen die Texte so geschrieben sein, dass man sie gut lesen kann. Während man bei Wikipedia zum Thema „Islam“ einen 15-seitigen Artikel findet, sollen die Beiträge nur ein Teilgebiet beschreiben. „Die Länge beschränkt sich auf zwei Normseiten. Der Leser selbst soll das Mosaik zusammensetzen“, beschreibt Múčka die Form. Statt „Islam“, findet man eher „islamisches Recht“, „Geschichte des Islams“ und „Islam und Demokratie“. Alle Texte sollen zugleich in einen großen theoretischen Rahmen eingebettet werden. So wollen die Autoren auch Texte darüber schreiben, was Menschenrechte, Rechtsstaat, Ideologie oder offene Gesellschaft bedeuten.

Das Projekt verfolge aber nicht die Absicht, ein Gesamtbild der gegenwärtigen Welt zu liefern, so Múčka. Den Ausgangspunkt bilden Europa und die Menschen, die dorthin kommen. Am Anfang jedes Beitrags stehen die Geschichten der Flüchtlinge. Diesen gehen die Autoren nach und suchen Informationen zu ihrem Kontext. „Zu uns nach Europa kommen Menschen und erzählen ihre Geschichten“, erklärt Múčka. „Wir erforschen die Regionen, aus denen sie kommen, wir erforschen diese Geschichten und wir erforschen unsere Antworten auf sie.“

Ohne Bewertung
Die europäische Perspektive auf die Flüchtlingskrise bildet einen wichtigen Bestandteil des Projekts. Die Autoren fragen, wer die fliehenden Leute aufnimmt und wer die Grenzen schließt – und sie fragen warum. Neben Beiträgen zu den Kriegsgebieten, soll es auch Artikel über den zunehmenden Nationalismus in Europa oder über die Kritik an der europäischen Integration geben. Die Enzyklopädie will diese Antworten aber nicht bewerten. „Sie sollen bis hin zu ihren Konsequenzen analysiert werden. Also etwa im Falle des Nationalismus zeigen wir, was nationalistisches Handeln ist, wie es sich äußert und wohin es führen kann. Ob das richtig oder falsch ist, sollen die Leser selbst entscheiden“, sagt Múčka.

Und wer sind die künftigen ­Leser? Múčka und seine Kollegen erwarten nicht, dass ihr Projekt die Massen erreicht. Andererseits wollen sie sich nicht an Gruppen in der Bevölkerung wenden, die keinen Dialog wünschen und „ihre Wahrheit haben“. „Wir richten uns an Menschen, die noch offen sind und etwas lernen wollen. Zugleich denken wir, dass die akademische Gemeinschaft eine gewisse Pflicht gegenüber der Gesellschaft hat. Sie soll auf diese Art und Weise zurückgeben, was die Gesellschaft in sie investiert hat.“ Zu den Zielgruppen gehören auch Lehrer und Journalisten, die die Enzyklopädie als eine zuverlässige Quelle für Erklärungen komplizierter Sachverhalte verwenden können.

Für die Zukunft erhofft sich Múčka noch mehr Autoren, die mit an der Enzyklopädie arbeiten, damit sie schneller wächst. Er will künftig auch ein internationales Publikum erreichen. Schade fände es der 22-Jährige, wenn sich das Projekt nur auf Tschechien beschränken würde. Wenn alles gut läuft, will er die Enzyklopädie ins Englische übersetzen lassen, und in andere Sprachen. Das erleichtere die Zusammenarbeit mit Autoren aus dem Ausland. Später würde er sich eine gesamteuropäische Enzyklopädie wünschen. Denn eine sachliche Debatte ist überall nötig. Und bestimmt finden sich auch überall Menschen wie Múčka und seine Kommilitonen. Über ihren Einsatz freut er sich besonders: „Ich bin begeistert davon, dass sie einen konstruktiven Beitrag geleistet haben. Man sollte sich nicht nur in ein Café setzen und darüber klagen, dass alle schlecht sind. Das passiert viel zu oft.“

Die Beta-Version des Projekts steht unter encyklopedie.shzs.cz