Die empathische Soziologin

Die empathische Soziologin

Die Leica Gallery zeigt Fotografien aus dem Werk von Markéta Luskačová

25. 9. 2014 - Text: Stefan WelzelText: Stefan Welzel; Foto: Markéta Luskačová

 

Es sind tiefe Furchen im Gesicht eines Obdachlosen, die Zahnlücken eines lächelnden Mädchens oder der nachdenkliche Blick aus den müden Augen eines Bauern, die auf einer einfachen Schwarz-Weiß-Fotografie eine kleine Lebensgeschichte erzählen. Ein Gespür für solche ergreifende Momente zu haben, ist wohl eine der wichtigsten Eigenschaften, die ein Fotograf benötigt. Markéta Luskačová besitzt diese Gabe. Zeuge davon kann man zurzeit in der Galerie Leica werden, wo rund 50 Aufnahmen der 70-jährigen Fotografin aus vier Jahrzehnten Schaffenszeit ausgestellt sind.

Luskačová studierte in den sechziger Jahren Soziologie an der Prager Karls-Universität. Nach ihrem ihrem Examen erlernte sie Fotografie an der renommierten FAMU. Ihre erste Bildserie widmete sie christlichen Pilgern in der Slowakei. Der sozialwissenschaftlichen Auseinandersetzung mit der religiösen Tradition auf dem Lande verschaffte sie damit eine zusätzliche künstlerische Dimension.

Am besten erschließt sich ihr soziologischer Ansatz in der „Spitalfields“-Reihe. Luskačová heiratete 1971 einen Briten, dem sie 1975 endgültig nach England folgte. Die Emigration wurde durch die Verbannung ihrer Werke auf den tschechoslowakischen Index kulturpolitisch zementiert. Auf dem Londoner Obst- und Gemüsemarkt Old Spitalfields Market suchte und fand sie über Jahre hinweg Motive für ihre Porträts. Es entstanden berührende, aber oft auch befremdlich wirkende Aufnahmen von Gauklern, Musikanten, Händlern, Kneipengängern und Obdachlosen. Die Dichte und der verengte Blick bilden in Kombination mit der grobkörnigen Struktur ihrer Fotografien eine Atmosphäre intimen Entrücktseins. Das mag paradox klingen, ist aber in der Tat eine gekonnte Mischung aus empathischer Nähe und kühler Beobachtungsgabe. Die „Spitalfields“-Serie führt den Betrachter direkt in das Markttreiben hinein, dem eine seltsame Morbidität innewohnt.

Weitaus lebendiger präsentieren sich dagegen Luskačovás Aufnahmen der Reihe „About Children“. Der ansteckenden Fröhlichkeit spielender oder Zuckerwatte essender Kinder konnte sich auch die Fotografin nicht entziehen. Und doch verfügen auch diese Bilder über eine beachtliche Dosis Melancholie.

Besonders berührend sind die Aufnahmen aus Luskačovás Frühwerk der sechziger Jahre. Die Reihen „Pilger“ und „Šumiac“ gehen unter die Haut. Im slowakischen Bergdorf Šumiac schien die Zeit um die vorletzte Jahrhundertwende stehen geblieben zu sein – technisch, infrastrukturell sowie sozial. Luskačovás Fotografien stellen ein einzigartiges Zeitdokument dar, das Historiker, Ethnologen und Kunstfreunde gleichermaßen begeistern dürfte.

Markéta Luskačová – Fotografie 1964–2014. Leica Gallery (Školská 28, Prag 1), geöffnet: Mo.–Fr. 9 bis 21 Uhr, Sa./So. 14 bis 20 Uhr, Eintritt: 70 CZK (ermäßigt 40 CZK), bis 2. November