Die Dämonie des Außerordentlichen

Die Dämonie des Außerordentlichen

Christian von Ehrenfels legte vor über 100 Jahren den Grundstein für die Gestaltpsychologie. Im Prag der Jahrhundertwende wurde er für einen exzentrischen Wissenschaftler gehalten

3. 9. 2015 - Text: Antonín PolicarText: Antonín Policar; Foto: Christian von Ehrenfels/psyberia.ru

Im Jahr 1896 kam Christian Freiherr von Ehrenfels aus Österreich in die tschechische Hauptstadt, um an der deutschen Karl-Ferdinand-Universität eine Professur für Philosophie zu übernehmen. Während seiner mehr als 30-jährigen akademischen Tätigkeit sorgte der Philosoph und Utopist unter seinen Prager Zeitgenossen für Aufmerksamkeit – und Irritation.

Der Baron aus reicher Familie, die auf Schloss Brunn am Walde lebte, war als Erstgeborener eigentlich zur Verwaltung des Anwesens bestimmt. Doch schon im Kindesalter zeigte er mehr Begeisterung für Kunst und Literatur als für die Landwirtschaft. Die märchenhafte Atmosphäre des alten Schlosses und die Jagdausflüge mit seinem Vater spiegelten sich später in seinen phantasievollen und allegorischen Dramen wider, wie zum Beispiel in „Die Brüder von Hartenstein“, das vom Schicksal eines untergehenden Rittergeschlechts handelt. Inspiriert wurde Ehrenfels dabei auch von den Werken Richard Wagners, den er sehr bewunderte. An der Wiener Universität hatte er bei den einflussreichen Philosophen Franz Brentano und Alexius Meinong studiert und darüber hinaus nicht die Gelegenheit versäumt, die Vorlesungen eines jungen Dozenten für Philosophie zu hören. Dieser sollte später in seinem Leben noch eine wichtige Rolle spielen: Tomáš Garrigue Masaryk.

Das kulturelle Leben brodelte im Prag der Jahrhundertwende vor allem in den zahlreichen Cafés und Salons. Oftmals war Ehrenfels bei den literarisch-philosophischen Abenden der emanzipierten Intellektuellen Berta Fanta im Café Louvre zu Gast. Hier traf der Österreicher unter anderem auf Franz Kafka und Max Brod, aber auch auf Albert Einstein oder Rudolf Steiner, die den Salon während ihrer Aufenthalte in Prag besuchten. Gastgeberin Fanta hörte selbst Vorlesungen von Ehrenfels an der Universität und hielt begeistert Notizen in ihren Tagebüchern fest: „Ich fühlte förmlich, wie mir im ganzen Körper vom Kopf aus warm wurde, wie ganze Gedankenreihen und Ketten sich bildeten und loslösten.“

Allerdings: Nicht immer wurden die Gedanken des Gelehrten so enthusiastisch aufgenommen. Obwohl einige seiner Ideen zur Ästhetik und einer Psychologie der Wahrnehmung noch heute Widerhall in akademischen Kreisen finden, galten andere bereits zu seiner Lebenszeit als höchst umstritten und haben das Bild von Christian Ehrenfels als verschrobenem Exzentriker geprägt. Eine „Dämonie des Außer­ordentlichen“ habe Ehrenfels umgeben, schrieb Max Brod in seiner Biographie. „Bei allem Scharfsinn, der ihn auszeichnete, war er immer in gefährlicher Nähe des Wahnhaften. (…) Lernte man Ehrenfels und sein System näher kennen, so gab sich einem bald die eiserne Logik seines Denkens kund. Aber auch sie, gerade sie, konnte einen erschrecken.“

Ehrenfels’ theoretisches Erbe
Heute ist Ehrenfels vor allem als Vorläufer der Gestaltpsychologie bekannt. Dieses Gebiet der modernen Psychologie, die sich mit den Gesetzmäßigkeiten der sinnlichen Wahrnehmung beschäftigt, erlebte im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts in Berlin seine Blütezeit. Ehrenfels war es, der das Konzept der Gestalt zu Papier brachte – von seinem Prager Studenten Max Wertheimer, den späteren Begründer der Berliner Schule, wurde es weitergeführt und in Experimenten erprobt. Für Ehrenfels war die Gestalt die spezifische Qualität eines Ganzen, das mehr als das Ergebnis seiner Teile ist. Eine Melodie sei mehr als die Summe ihrer einzelnen Töne: Sie sei eine organisch verbundene, untrennbare Struktur und könne sogar unabhängig von der Tonart erkannt werden, in der wir sie hören. Ob in C-Dur oder E-Dur – ihre Form bliebe gleich, so Ehrenfels.

Spätere Gestaltpsychologen haben, ausgehend von Ehrenfels, darauf hingewiesen, dass der menschliche Geist alles, was wahrgenommen und gedacht wird, in ebensolche strukturierte „Gestalten“ einordnet. Obwohl die Gestalttheorie weltweit große Aufmerksamkeit erweckt hat, und später auch an britischen und amerikanischen Universitäten weiterentwickelt wurde, war sich Ehrenfels des Erfolges seiner Idee kaum bewusst. Schon damals beschäftigte er sich mit ganz anderen Problemen, die wohl zur Skepsis von Max Brod und anderen Zeitgenossen gegenüber dem österreichischen Gelehrten beitrugen.

Gesellschaftserneuerung durch Sexualreform
Ehrenfels arbeitete in Prag an seiner ganz eigenen Interpretation der Ethik. Sein Ziel war nichts Geringeres als die Rettung der europäischen Gesellschaft, die er als degeneriert und vom Aussterben bedroht betrachtete. Sein Lösungsvorschlag war eine radikale Änderung der sexuellen Moral. Die traditionelle Monogamie in der westlichen Kultur hemmte laut Ehrenfels den natürlichen Ausleseprozess und somit die Verbreitung hochwertigen Genmaterials. Gedanken von Rassenreinheit spielten dabei keine Rolle. Im Gegenteil er sprach sich sogar für eine Mischung des Erbmaterials aus.

Ehrenfels befürwortete grundsätzlich Polygamie für genetisch am besten veranlagte Männer und eine gezielte Fortpflanzung. Konkret hat Ehrenfels seine Sexual- und Ehereform in dem Buch „Sexualethik“ (1907) beschrieben. Seine Vision der künftigen Gesellschaft: Die meisten Männer werden aus dem Reproduktionsprozess ausgeschlossen. Nur eine Elite starker und gesunder Männer darf Nachkommen zeugen. Und das nicht nur mit einer einzigen Frau, sondern mit vielen, die ihre Kinder im Kollektiv großziehen. Infolge der Arbeitsteilung würden solche Haushalte effizienter funktionieren als traditionelle Familienkonstellationen – und die Frauen könnten ihrer beruflichen Karriere mehr Zeit widmen. Kein Wunder, dass solche Gedanken für Verwirrung im konservativen Milieu Prags sorgten. Ehrenfels unternahm daraufhin den Versuch, seine Sexualethik einem breiteren Publikum durch das Drama „Sternenbraut“ verständlich zu machen. Die Uraufführung des Stücks 1912 im Neuen Deutschen Theater, der heutigen Staatsoper, fand allerdings keine größere Resonanz.

Nachkriegsperspektiven: Religion und Panslawismus
Während des Ersten Weltkriegs verfiel Ehrenfels in eine tiefe Depression. Einen Ausweg aus der Krise fand er in metaphysischen und religiösen Gedanken. Im Jahr 1916 brachte er seine „Kosmogonie“ heraus, in der er die Entwicklung der Welt anhand eines gestaltenden und chaotischen Prinzips erklärte. Deren Wechselwirkung bildete für ihn die Grundlage zu einer neuen religiösen – und zugleich streng rationalen – Weltanschauung.

Nach Kriegsende hatte er eine weitere Vision, wie sich das in seinen Augen am Abgrund stehende Abendland entwickeln könnte: Im Osten Europas sah er nun die Zukunft. Ehrenfels wurde eifriger Panslawist und Anhänger des neuen tschechoslowakischen Staates. 1925 widmete er dem Präsidenten Tomáš Garrigue Masaryk zum 75. Geburtstag sein neues Drama „Die Mutter des Legionärs“ . Von der Presse wurde es zerrissen. „Nun ist meine jetzt schon 65-jährige Lebenszeit reich gewesen an – ich kann es nicht anders ausdrücken – großzügigem Misslingen“, kommentierte Ehrenfels resigniert sein Scheitern, und wandte sich fortan wieder dem spirituellen Projekt einer Religionsbegründung zu. In Präsident Masaryk glaubte er, einen geeigneten Führer gefunden zu haben. In einem offenen Brief bat er um Unterstützung. Die Antwort Masaryks war abfällig. Der Versuch einer neuen Religion endete genauso erfolglos, wie die vorherigen Bemühungen um eine Reform der sexuellen Moral und zur panslawistischen Kultur­bewegung.