Der tschechische Weg als Verbrechen

Der tschechische Weg als Verbrechen

Bei der Privatisierung ging viel Geld verloren. Viele wollen davon nichts wissen

29. 6. 2016 - Text: Tomáš SamekText: Tomáš Samek; Foto: ČTK/Petr Matička

Oft hört man die Frage – und das nicht nur in Tschechien –, warum sich im Land Masaryks und Havels eine nicht reformierte Kommunistische Partei eines stabilen Zuspruchs von 10 bis 20 Prozent der Wählerschaft erfreuen kann. Ein wichtiger Grund dafür liegt darin, dass ein großer Anteil der Bevölkerung den Eindruck hat, von den Früchten der seit der Samtenen Revolution insgesamt positiven wirtschaftlichen Entwicklung zu wenig abbekommen zu haben. Oder konkreter: dass sich bei der marktwirtschaftlichen Transformation zu viele Glücksritter zu große Stücke des früheren Volksvermögens auf dubiose Weise und unbestraft aneignen konnten. Zudem wird die Öffentlichkeit immer wieder an die vielen unaufgeklärten Skandale der Privatisierung der großen Unternehmen erinnert. Zum Beispiel durch die unerwartete Amnestie, die Ex-Präsident Klaus bei seinem Ausscheiden aus dem Amt zur Jahreswende 2012/2013 verkündete und die eine Reihe von Verdachtsfällen der weiteren rechtlichen Aufarbeitung entzog. Oder der Einstieg des Milliardärs Andrej Babiš in die Politik, der selbst lautstark als Ankläger von Korruption und Diebstahl auftritt, aber Fragen nach der Herkunft seiner Milliarden und nach der privaten Nutzung Brüsseler Strukturfonds nur lückenhaft beantwortet. Und sogar ehemalige Weggefährten von Klaus halten mit ihrer Kritik der damaligen Privatisierungspraktiken nicht mehr hinter dem Berg. Der folgende Beitrag von Tomáš Samek bringt in drastischer Weise auf den Punkt, warum in Tschechien schon seit Jahren „vytunelování“, sinngemäß „Ausplünderung“, zu den meistverwendeten Worten zählt, wenn der tschechische Weg in die freie Marktwirtschaft thematisiert wird.   (jfü)


Wo stehen wir und wohin gehen wir? Das hängt sehr davon ab, wie es mit der Wirtschaft steht und wie das politische System aussieht, das die Interessen der einflussreichsten Akteure in der Gesetzgebung des Staates widerspiegelt. Die Form und den Stand der Wirtschaft bestimmen jedoch in bedeutendem Maße die reichsten und deshalb mächtigsten Spieler. Diese haben sich bei uns als die Nutznießer der wichtigsten Transformationsstrategie etabliert, die in der Coupon-Privatisierung bestand. Gerade durch sie entstand laut Tomáš Ježek (Ježek war zwischen 1992 und 1994 Chef des Nationalen Vermögensfonds der Tschechischen Republik; Anm. d. Red. – PZ) das Vermögen der 20 reichsten Männer Tschechiens.

Nach der Wende war klar, dass privatisiert werden musste, aber es herrschte kein Einvernehmen darüber, wie viel, wie schnell und auf welche Weise. Noch vor der Teilung der Tschechoslowakei entstanden zwei konkurrierende Strategien – die erste repräsentiert von dem Ökonomen-Team um Jan Vrba, der in der tschechischen Regierung unter Pithart Industrieminister war, die zweite von den Leuten unter der Führung von Václav Klaus. Der war damals föderaler Minister der Finanzen und gab deutlich zu verstehen, dass er mit den Privatisierungsprojekten der Gruppe von Vrba nicht einverstanden sei und sie am liebsten einstellen würde. Das ist ihm auch bald gelungen. Mit dem Entstehen der selbständigen Tschechischen Republik wurde Klaus Premierminister und alle bis dahin von den Leuten um Vrba vorbereiteten, aber noch nicht realisierten Projekte fegte er vom Tisch – einschließlich der Verträge, die schon unterschriftsreif waren. So konnte die Vrba-Gruppe mit ihrem Privatisierungsansatz nur einige große Unternehmen entstaatlichen. Dieser Ansatz erwies sich als außergewöhnlich wirksam – er basierte auf der Beteiligung von Auslandskapital, das nicht nur die Entwicklung der Unternehmen sicherte, sondern auch die weltweiten Absatzmärkte für deren Produkte.

Sattsam bekanntes Beispiel ist der Eintritt von Volkswagen in die Škoda-Autowerke von Mladá Boleslav. Rechte wie linke Ökonomen sind sich einig, dass dieses Unternehmen heute das wichtigste Zugpferd der gesamten tschechischen Wirtschaft ist. Dabei bekundeten damals viele namhafte auswärtige Markenfirmen ein ernsthaftes Interesse, in unsere Unternehmen zu investieren – zum Beispiel Siemens oder Mercedes-Benz. Das Team um Vrba bereitete die Privatisierung des Kerns der tschechischen Industrie vor; darin war die Mehrzahl der großen Firmen eingeschlossen. Diejenigen von ihnen, deren Privatisierung Vrbas Leute noch durchzuziehen vermochten, prosperieren bis heute.

Umgekehrt ist die große Mehrheit von Unternehmen, die über die Vergabe von Coupons privatisiert wurden, früher oder später gescheitert, und deren Finanzmittel, vielfach auf geheime Auslandskonten transferiert, sind unwiederbringlich verloren gegangen. Wenn in die über Coupons privatisierten und danach bankrottgehenden Fabriken später Kapitalgeber aus dem Ausland einstiegen, dann boten sie nur noch einen Bruchteil dessen an, womit in der Konzeption von Vrba gerechnet wurde: Die Unternehmen wurden verkauft, nachdem sie um ihre wertvolle Substanz gebracht („untertunnelt“) waren, und ihr Marktwert war entsprechend. Ohne Übertreibung kann man sagen, dass Klaus’ Eingriff in die Privatisierung eines der weitreichendsten tschechischen Wirtschaftsvergehen im 20. Jahrhundert darstellt: Auf Generationen hinaus ruinierte er einen großen Teil der einheimischen Wirtschaft, die von den Privatisierungsrittern ausgeplündert wurde und die sich davon bis heute nicht erholt hat.

Von Verwaltern zu Dieben
Es ist eine Ironie der Geschichte, dass die Couponmethode, die ein schwerer Schlag für die Volkswirtschaft war, von ihren Protagonisten als „tschechischer Weg“ propagiert wurde. Sie sollte angeblich verhindern, dass die Filetstücke der tschechischen Industrie in ausländische Hände gelangten. Im Übrigen war dies nicht das erste Mal, dass man im Namen der Nation eine Lösung durchsetzte, die der Nation spürbar Schaden zufügte.

Es handelt sich natürlich um bekannte Fakten. Einen Teil davon enthält der Dokumentarfilm „Česká cesta“ (Der tschechische Weg). Es ist bezeichnend, dass seine Ausstrahlung im öffentlich-rechtlichen Fernsehen nicht abzusehen ist. Nach seiner Vorführung im Kino Pilotů in Prag-Vršovice – einem der wenigen Orte, an dem man ihn sehen kann – fand ich es schade, dass dieser Film so spät kam. Doch in der Diskussion, die dem Film folgte, reagierten die Prager Zuschauer in einer Weise, die eher meine Auffassung bestärkte, dass er für die meisten von ihnen eher zu früh kommt. Mit so viel Überraschung habe ich nicht gerechnet und schon gar nicht mit dem Versuch, zu verteidigen, was sich nicht verteidigen lässt. Auch deswegen habe ich mich entschlossen, über das Thema zu schreiben. Es scheint, dass immer noch viele Leute bei uns keine Vorstellung von der größten, von tschechischen Politikern verursachten wirtschaftlichen Malaise haben, die uns seit November 1989 getroffen hat.

An dieses Vergehen oder zumindest Versagen muss umso mehr erinnert werden, als dafür nie jemand zur politischen oder strafrechtlichen Verantwortung gezogen wurde. Das Vermögen, das unser Land verloren hat, schätzt man auf eine Billion Kronen. Aber weil unsere Oligarchie sich gerade aus den Coupon-Privatisierern zusammensetzt, die statt zu Verwaltern des Vermögens zu seinen Dieben geworden sind, ist nicht zu befürchten, dass diese Fakten eine massenhafte Publizität erhalten.

Unser öffentlicher Raum war im vergangenen Vierteljahrhundert überflutet von Verweisen auf die Verbrechen des vergangenen Regimes. Da ist es schwer sich einzugestehen, dass die Grundlagen des Systems, in dem wir heute leben, mit einer kolossalen Wirtschaftskriminalität verknüpft ist, die etwa in den Vereinigten Staaten mit Gefängnis bestraft würde. Die ursprüngliche Akkumulation von Kapital ist mit Verbrechen verbunden – wir haben das Pech, dass wir uns von dieser Erkenntnis Balzacs als Nachwendegeneration mit eigenen Augen überzeugen konnten.


Der Artikel erschien unter dem Titel „Česká cesta jako zločin“ zuerst in der 14-täglich erscheinenden Kulturzeitung „A2“ (Ausgabe 12/2016). Übersetzung: Josef Füllenbach