Der Traum vom Urwald
Altvatergebirge

Der Traum vom Urwald

Unberührte Natur gibt es hierzulande kaum. Umweltschützer wollen eine neue tschechische Wildnis schaffen

17. 6. 2015 - Text: Respekt, Titelfoto: Milan Jaroš

Zuerst geht es über eine glatte Asphaltstraße, dann auf einen breiten Forstweg. Schließlich über Schotter, bis das Auto endlich vor einer Wand aus krumm gewachsenen Fichten stehen bleibt. Es ist mitten im Frühsommer, aber es regnet. Aus dem Wald ziehen eisige Nebelschwaden herüber. Das Auto ist beheizt, der Ausblick durch die Fensterscheibe schön. „Weiter geht es nur zu Fuß“, sagt der Fahrer mit zufriedenem Gesichtsausdruck. Die beiden Männer im Wagen knöpfen ihre roten Gore-Tex-Jacken zu und mir ist klar, dass ich dem nasskalten Wetter auf dem Berg Keprník nun nicht mehr entfliehen kann.

Das Wasser rinnt an den Bäumen herunter und tropft von den Blättern der Bergkräuter. Tote Stämme ragen aus dem Zwielicht. Mit den Augen folge ich ihren krummen Linien nach oben bis zum Himmel. In diesem Moment zieht es mir auf einer glitschigen Wurzel die Beine weg. Die zwei Mitarbeiter des Landschaftsschutzparks Jeseníky (Altvatergebirge) schweigen diskret. Das ist er also, der tschechische Urwald.

Der Schutzpark Šerák-Keprník ist der älteste in Mähren. Er ist hoch gelegen und abscheuliches Wetter ist hier Standard. In den höheren Lagen wird der Wald von einer baumfreien Tundra abgelöst, die vom Wind gepeitscht und von Gras, Felsen und seltsamen Blumen bedeckt wird. Allein in diesem böigen Wind zu stehen, ist ziemlich unheimlich. Märchen über umherirrende Wurzeln, die unglückliche Wanderer fangen, erscheinen mir auf einmal ziemlich real.

Ähnlich wilde Orte gibt es in Tschechien nicht viele. Die Wildnis hierzulande ist meist nicht zugänglich; aber wer sie gesehen hat, der weiß, dass sie ebenso atemberaubend ist wie anderswo auf der Welt. Kalte Urwälder und Tundra, wilde Flüsse, Buchen- oder Auwälder: All diese Naturwunder befinden sich oftmals in Nationalparks und Schutzgebieten; sie machen zusammen 0,26 Prozent des tschechischen Staatsgebiets aus. Zum Vergleich: Mit Beton oder Asphalt waren dem Umweltministerium zufolge im Jahr 2009 etwa drei Prozent Tschechiens bedeckt, mehr als 2.500 Quadratkilometer, eine Fläche so groß wie Luxemburg. Und mittlerweile ist sie mit Sicherheit noch um einiges größer.

Doch es muss nicht bei diesem viertel Prozent unberührter Natur bleiben. Das Land kann wilder werden. Anderswo in Europa geschieht das schon: In Spanien, Portugal oder Italien ziehen die Menschen aus den Dörfern in die Städte, ehemalige Ortschaften werden von Immobilienbüros verkauft oder verwildern. In Deutschland wurde vor einigen Jahren ein staatliches Konzept gebilligt, demzufolge sich der Anteil unberührter Natur auf zwei Prozent der Staatsfläche verdoppeln soll.

Auch bei uns gibt es einen Plan. Er kommt von Aktivisten der Ini­tiative Hnutí Duha (Bewegung Regenbogen). Drei Prozent des Territoriums könnte die Natur zurückerobern, neue Wildnis zum Beispiel in Nationalparks entstehen, aber auch auf Militärübungsgeländen und weiteren abgelegenen oder heute bereits anderweitig geschützten Flächen. Es soll um große Areale gehen, mit mehr als 1.000 Hektar (etwa zwei mal fünf Kilometer), damit sich die Natur dort frei entfalten kann. Gleichzeitig würden diese Gebiete auch für Menschen geöffnet. „Wir wollen etwas Neues für die Natur und für die Leute“, erklärt Jiří Koželouh, Programmdirektor bei Hnutí Duha.

Fichten-Fiasko
Auf dem Keprník regnet es noch immer. Wir dringen tiefer in den Wald ein. Die Naturschützer erklären, wie ihre Arbeit aussieht. „Hier zum Beispiel nagen sie schon an den jungen Fichten“, sagt einer der Männer aus dem Nebel. Der Laie sieht kleine Bäume, die ein wenig geneigt sind, wohl eine Folge des grässlichen Klimas. Der Experte sieht ein Fiasko. „Sie sollten aussehen wie dort“, zeigt er auf andere, höhere und schlankere Nadelgewächse, „sie sind etwa gleich alt“. Verantwortlich für das Problem sind die vielen Hirsche und Gämsen, die sich aus dem Landschaftsschutzpark Šerák-Keprník, in dem kein einziges Raubtier lebt, ein gemütliches Wald-Buffet gemacht haben.

Meine Augen sehen langsam etwas anderes als Urwald: Kleine Buchen und Ebereschen in umzäunten Schutzgebieten, in denen die Waldpfleger sorgfältig versuchen, wenigstens die zukunftsreichsten kleinsten Laubbäume vor den Zähnen der Wiederkäuer zu retten. Die Natur hier hat sich verändert. Ihr fehlen die Raubtiere (nach einem Luchs wurde im Altvatergebirge jahrelang vergeblich gesucht), und sie wird umringt von Fichtenplantagen.

Wie in den meisten anderen europäischen Ländern schützen wir in Tschechien die Natur ähnlich wie wir alte Burgen schützen: Wo es noch geht, versuchen wir sie mit Händen und Füßen in dem Zustand zu erhalten, in dem wir sie vorgefunden haben. Wir richten hier ein Reservat für seltene Tiere und Pflanzen ein, kämpfen dort dagegen, dass ein Käfer ausstirbt. Daran ist nichts Schlechtes. Aber es fehlt etwas. Es ist nämlich auch möglich, sich leise zurückzuziehen und den Dingen freien Lauf zu lassen. So werden die Urwälder am Amazonas und die arktische Tundra geschützt. In Europa gibt es nicht mehr viele solcher Orte, aber wenn die Natur nicht allzu sehr zerstört ist, kann man ihren Zustand ein wenig verbessern und sie dann schrittweise ihrem Schicksal überlassen. Dieses Vorgehen setzt allerdings ein grundlegendes Umdenken voraus. „Was passiert, wenn wir der Natur freien Lauf lassen? Lassen wir uns überraschen“, heißt es im Programm von Hnutí Duha. Das ist im Prinzip der ganze Plan.

Doch wahre Wildnis bietet bei Weitem nicht nur glühende Sonnenuntergänge am weiten Horizont zerklüfteter Berge. Eine Landschaft, um die der Mensch sich nicht mehr kümmert, erkennt man unter anderem an der Allgegenwärtigkeit von Tod und Verwesung. Man findet dort vertrocknete Stümpfe, nicht nur grüne, buschige Bäume. Im Bett eines wilden Flusses versperrt ein Gewirr aus alten Stämmen den Weg, sodass nicht einmal mehr ein kleines Boot durchkommt. Leben und Tod durchdringen sich und der Anblick des Ganzen muss nicht unbedingt reizend sein.

Wenn Naturgewalten ungesteuert wirken, kann das dazu führen, dass Tiere bis auf die Knochen abmagern und die schwächsten mitten im harten Winter von den Füchsen geholt werden. Das haben zum Beispiel die Niederlande in ihrem nahe von Amsterdam gelegenen Naturentwicklungsgebiet Oostvaardersplassen bestürzt bemerkt. Dort führten solche Szenarien zu hitzigen Debatten auf Regierungsebene. Schließlich wurde die Einführung einer „Gnadenjagd“ beschlossen, die regelmäßig hinter den verschlossenen Toren des Parks stattfindet. In Tschechien ist der Böhmerwald ein solches Beispiel. Die vertrockneten Fichten, die man dort stehen ließ, riefen bei unvorbereiteten Besuchern heftige Reaktionen hervor.

Lauf der Evolution
Nun stellt sich natürlich die Frage, warum wir so etwas wollen sollten. Die Experten argumentieren rational. Man könnte in der Wildnis zum Beispiel natürliche Prozesse beobachten und analysieren – was vor allem interessant ist, da der Klimawandel die Natur sichtbar verändert. Falls wir weiterhin den Großteil der Landschaft auf unseren Feldern, in unseren Gärten, Nutzwäldern und Parks selbst bewirtschaften und nutzen wollen (und das wollen wir natürlich), müssen wir irgendwo lernen, wie man bestimmte Probleme löst. Es ist auch vom freien Lauf der Evolution die Rede, den man nicht stoppen sollte.

Aber es geht nicht nur um Wissen­schaft: Auch ganz normale Menschen mögen die Wildnis. Die Gegenden, wo sie vorkommt, gehören zu den meistbesuchten der Erde. Das gilt auch für Tschechien – man braucht nur in den Böhmerwald oder ins Riesengebirge zu schauen. Naturschützern zufolge haben Wildnisgebiete ein enormes Potenzial für den Tourismus. Das können auch Reisebüros bestätigen, die ihre Kunden in Nationalparks auf der ganzen Welt schicken.

Am Keprník bricht kurz vor dem Ende der Wanderung eine Diskussion darüber aus, wie es aussehen würde, wenn tatsächlich ein Stück echte Wildnis hierher zurückkehren würde. Die Mitarbeiter des Parks sind dagegen: Fichtenwälder, die in dieser Höhe und bei den klimatischen Bedingungen überwiegen, werden immer ein Ort sein, an dem (ebenfalls ganz natürlich) der Borkenkäfer lebt. Ihn einfach in Ruhe zu lassen, wie es sich in der Wildnis gehört, würde die Besitzer der angrenzenden Nutzwälder in den Wahnsinn treiben. Es bliebe nichts anders übrig, als für ihre finanziellen Schäden zu zahlen, oder man müsste eine Pufferzone aus Mischwäldern schaffen. Aber das würde etwa 100 Jahre dauern.

Auf dem Weg zurück ins Tal ist von Juraj Lukáč die Rede, dem Kämpfer für die Wildnis, dem es in der Slowakei gelungen ist, Wälder zu kaufen, sie ihrer eigenen Entwicklung zu überlassen und dann für Touristen zu öffnen. Auf ein solches Phänomen warten die Tschechen noch. Die Initiative Hnutí Duha zeichnet sich nicht durch radikale Positionen aus, sie ist sehr vorsichtig. Wo die neue tschechische Wildnis entstehen soll, weiß man noch nicht. Zuerst sollen Experten verschiedene Gebiete bewerten. Man werde dabei nicht nur die Umwelt berücksichtigen, sondern auch die Position der Anwohner, heißt es bei Hnutí Duha.

Soll die Natur tatsächlich vollkommen ihrem Schicksal überlassen werden? Nicht so richtig. Alles soll vernünftig, langsam und strategisch geschehen. Ohne ein vollständiges Ökosystem, das heißt ohne Luchse, Wölfe oder Bären, die an der Spitze der Nahrungskette stehen, kann keine Wildnis funktionieren. Aber Raubtiere gibt es in Tschechien kaum und ihre aktive Verbreitung beinhaltet der Plan nicht. Hnutí Duha und ihre Anhänger wollen vor allem eine Diskussion in Gang bringen. Sie wollen sogar mit Umweltpsychologen zusammenarbeiten, die untersuchen, welche Vorstellungen von Natur verschiedene Bevölkerungsgruppen haben und wie man mit ihnen am besten über das Thema spricht.

Starke Jäger-Lobby
Ein Hinweis darauf, was Tschechien auf dem Weg zu einer neuen Wildnis erwartet, wurde kürzlich im Altvatergebirge deutlich. Schon seit einigen Jahren plant das Umweltministerium, einen Teil des Landschaftsschutzgebiets in einen Nationalpark umzuwandeln. Ein Blick auf die Landkarte zeigt, wie vorsichtig Naturschützer in Tschechien vorgehen: Die Grenzen des geplanten Parks machen einen weiten Bogen um jeden kritischen Bereich und bis auf eine Ausnahme – den Berg Altvater (Praděd) – auch um die Ziele des Massentourismus, das heißt vor allem um die Skilifte. In der Region stößt das Vorhaben dennoch auf Widerstand. Eine Petition für den Nationalpark haben zwar 15.000 Menschen unterschrieben. Ein Teil der Bürgermeister stellt sich jedoch dagegen. Die Naturschützer glauben, dass dahinter vor allem die starke Jäger-Lobby steckt. Die Pläne ruhen vorerst in der Schublade.

Dennoch ändert sich auch hierzulande etwas. Eine von der Regierung geplante Gesetzesnovelle könnte – wenn sie im Parlament durchgeht – die Lage im Böhmerwald stabilisieren und einen Teil des bisher nicht zugänglichen Territoriums für Besucher öffnen. Außerdem sollen neue Schutzgebiete und Nationalparks entstehen. Auf einem ehemaligen Militärgelände im mittelböhmischen Milovice nad Labem tummeln sich Wildpferde, die von Biologen der Südböhmischen Universität und Aktivisten einer Umweltorganisation gemeinsam angesiedelt wurden, um nun Besucher aus der weiteren Umgebung anzuziehen. Auch wenn es zu einer großen neuen Wildnis noch ein weiter Weg ist – ein erster Schritt ist getan.

Der Text erschien zuerst in der Wochenzeitschrift „Respekt“ Nr. 23/2015. Autor: Jiří Sobota, Übersetzung: Corinna Anton

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