Der Grenzgänger

Der Grenzgänger

Zum Tod des Schriftstellers Otfried Preußler

27. 2. 2013 - Text: Isabelle DanielText: Isabelle Daniel; Foto: Francis König

Es ist die Heimatlosigkeit, die den Waisenjungen Krabat zu jener Mühle am Koselbruch führt, die Schauplatz der düstersten aller Preußler-Geschichten ist. Vielleicht war es gerade diese Heimatlosigkeit, die Otfried Preußler an der sorbischen Sagenfigur des Krabat so faszinierte. Zehn lange Jahre feilte er an dem Protagonisten desjenigen Buches, das er später als sein persönlichstes bezeichnen sollte. Otfried Preußler wuchs nicht als Waisenjunge auf, doch das Gefühl der Entwurzelung kannte der auch als Volksschullehrer tätige Schriftsteller allzu gut.

1923 im nordböhmischen Reichenberg (Liberec) in eine sudetendeutsche Familie hineingeboren, blieb Preußler für den Rest seines Lebens ein Grenzgänger auf der Suche – nach Heimat, vor allem aber nach Geschichten. Gefunden hat er sie in Bayern, wo er nach Krieg und Vertreibung sesshaft wurde. Der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ vertraute der Schriftsteller in einem Interview zu seinem 80. Geburtstag an, seine großen Erzählungen bei ausgedehnten Spaziergängen im Bayerischen Wald ersonnen zu haben. Tatsächlich blieb die Atmosphäre, in der er seine Ideen zu Geschichten entwickelte, in diesen spürbar. Der Wald, die Natur überhaupt, sind in Preußlers Texten mehr als bloße Kulisse des Handlungsstrangs. Vielmehr behandelte er sie als immanenten Bestandteil seiner Dramaturgie und belegte sie mit einer Symbolik, die seine Bücher für Kinder und Erwachsene gleichermaßen lesenswert macht.

Die Leichtigkeit, mit der ein Kind etwa den „Krabat“ liest, spricht deshalb genauso sehr für die Genialität des Autors wie sie trügerisch ist. Wer das Buch vor dem Hintergrund von Preußlers Biographie als Erwachsener erneut in die Hand nimmt, erkennt darin auch Motive, wie sie für die deutsche Nachkriegsliteratur typisch sind: Ohne die Kriegserfahrung des Autors, zu der auch die Erfahrungen von Kamerad- und Gefangenschaft gehören, lässt sich die Solidarität der Knaben, die sich gegen den schwarzen Meister verbünden, kaum deuten.

Schweigen über die Kriegserfahrung
Direkt nach dem Abitur, das er 1942 noch in Reichenberg ablegt, wird Preußler von der Wehrmacht eingezogen und an die Ostfront geschickt. Zwei Jahre später, als sich die Niederlage der Deutschen bereits abzeichnet, muss der junge Leutnant nach Rumänien, wo er bald in sowjetische Kriegsgefangenschaft gerät. Erst 1949 wird er entlassen; die Vertreibung seiner Familie erlebt er daher selbst nicht mit.

Über die konkreten Erfahrungen im Gulag hüllte er sich zu Lebzeiten ebenso in Schweigen wie über seine Wahrnehmung der nationalsozialistischen Einverleibung des Sudetenlandes 1938 und der Zerschlagung der „Rest-Tschechei“. Dennoch: Dass er seine Kindheit in seiner skizzenhaften Autobiographie „Ich bin ein Geschichtenerzähler“ als „herrlich unbeschwerte Zeit“ bezeichnete, sollte nicht zu einer Verkennung des politisch denkenden Preußlers führen. Er habe eben die Entscheidung getroffen, „für Kinder zu schreiben“, erklärte er einmal dem „Focus“. Als Schreiber für junge Leser schien ihm die Prägung durch seine unmittelbare Familie grundlegender als die politischen Umstände seiner Jugend. Seinen Vater Joseph, einen Lehrer und leidenschaftlichen Volkskundler, begleitete der junge Otfried früh auf seinen Erkundungszügen durch Nordböhmen. In den Wohnzimmern der „einfachen Leute“ entwickelte der damalige Schüler ein Gespür für die volkstümlichen Märchen und Weisen. Das fantasievolle Denken lehrte ihn aber seine Großmutter Dora, der Preußler noch als alter Mann ein „zweites Gesicht“ attestierte.

Kindlicher Glaube an Magie
Den kindlichen Glauben an Zauberei behielt sich Preußler zeit seines Lebens bei. Gerade die Vorstellung Preußlers einer „schwarzen Magie“ ist aber vor dem Hintergrund des Bösen, dem er im wahren Leben begegnete, zu verstehen, die es ihm möglicherweise alleine möglich machte, die Welt weiterhin mit den optimistischen Augen eines Kindes zu betrachten. Bemerkenswert ist, wie er im „Geschichtenerzähler“ der traumatischen Verlusterfahrung der „Kinderheimat“ auf fast humorvolle Weise den späteren Besuch seines Geburtshauses und die erste Begegnung mit den neuen Bewohnern entgegensetzt – oder von der jüdischen Armeeärztin berichtet, die dem Leutnant Preußler im sowjetischen Lager das Leben rettet, kurz nachdem ihr Sohn im Kampf gegen die Deutschen gefallen ist.

Erst diese Reflexionsfähigkeit machte Otfried Preußler zu einem einzigartigen Literaten – und seine Literatur im besten Sinne zeitlos. Preußler gelang es, die Lebendigkeit seines Werks aufrechtzuerhalten, weil er zu neuen Interpretationen seiner Bücher selbst in der Lage war. So zitierte er einmal einen Schweizer Leser seines „Krabat“, der ihn fragte, ob der Meister eigentlich ein Symbol für Hitler sein solle. Erst da habe er in seiner Romanfigur die Inkarnation des real existierenden Bösen erkannt. Mit dieser Deutung des Autors selbst gewinnt auch der Widerstand der Lehrlinge in der Mühle eine, auch im politischen Sinne, neue Ausdrucksstärke.

Erst in allerjüngster Zeit zeigte der 89-Jährige Weitblick: Nämlich als er die Überarbeitung seiner Klassiker „Die kleine Hexe“ und „Der Räuber Hotzenplotz“ zur Entfernung diskriminierender Begriffe genehmigte, mit der sein Verlag eine Debatte über die Zulässigkeit sprachlicher Anpassung von Literatur anstieß. Mit der Zeit sei bei Preußler die „Einsicht gewachsen, dass die Authentizität des Werks der sprachlichen Weiterentwicklung untergeordnet werden muss“, ließ er sich vom Thienemann-Verlag zitieren.

Nicht jedem Schriftsteller gelingt die Balance zwischen Authentizität und Anpassung an die Lebenswirklichkeit. Otfried Preußler ist bis zu seinem Tod am vergangenen Montag ein Grenzgänger geblieben. Er wird als modern denkende Persönlichkeit, sein Werk als zeitlos in Erinnerung bleiben.