An der Grenze

Das Rätsel des Katzendrecks

Das Rätsel des Katzendrecks

Tschechen und Deutsche suchen nach dem Grund für üble Gerüche im Erzgebirge

2. 4. 2015 - Text: Respekt, Foto: Milan Jaroš

Die breite Asphaltstraße, die durch die Ebene um Litvínov mit ihren rauchenden Chemiefabriken führt, wird zwischen den ersten Bäumen des Erzgebirges enger und beginnt steil anzusteigen. Wenn das Auto dann über die Grenze fährt, öffnet sich die Sicht auf die Auen und Haine um die gepflegten Dörfer der deutschen Berghänge. Doch das Leben in der Idylle des sächsischen Erzgebirges wird getrübt – von einem Problem, das die örtliche Bevölkerung mittlerweile nur noch als „Katzendreckgestank“ bezeichnet. Schon seit Jahren steigt hier von Zeit zu Zeit ein Gestank auf, von dem die Einheimischen angeblich genau wissen, woher er kommt – aus Böhmen.

Das Mysteriöse an dem Geruch: Obwohl sich die Menschen hier bereits 20 Jahre lang darüber beschweren und ihnen die Behörden schon ebenso lange Abhilfe versprechen, hat die Quelle des Übels bisher noch niemand gefunden. Nun gibt es jedoch neue Hoffnung für die Sachsen. Die Umweltminister beider Länder haben sich verpflichtet, das Rätsel zu lösen, komme was wolle.

Die kräftige Sonne des diesjährigen Vorfrühlings streckt sich über die langgezogenen Hänge um das  kleine Dorf Rübenau. Die meisten Einheimischen sind am Morgen zur Arbeit gefahren, aber die Kinder haben Ferien und einige genießen den frisch gefallenen Schnee. „Endlich können wir wieder draußen sein, ohne dass wir uns die Nase zuhalten müssen“, sagt die junge Mutter Magda Preißler, während ihr Sohn im Garten versucht, einen Schneemann zu bauen. Die Luft ist kühl und es riecht nach Frühling, den Großteil des Herbstes soll die Gemeinde aber wie schon oftmals zuvor in einem unerträglichen Gestank verbracht haben. „An Katzendreck erinnerte er früher, jetzt riecht es eher nach verdorbenen Eiern oder verbranntem Gummi“, meint Preißler. Manchmal schwebe der Geruch nur ein paar Minuten über dem Dorf, manchmal Stunden, fügt sie hinzu. „Er ist schrecklich intensiv, ich bekomme sofort Kopfschmerzen, meinem Sohn brennen die Augen und manchmal ist ihm unwohl“, beschwert sich die 33-Jährige.

Eine Apothekerin im nahe gelegenen Seiffen bestätigt das Problem. „Ich muss nicht einmal rausgehen, um zu wissen, dass der Gestank wieder da ist“, sagt Diana Kühnel. „Zu uns in die Apotheke kommen an solchen Tagen ein paar Dutzend Kunden mehr, die gerade den üblen Geruch erwähnen. Am häufigsten leiden sie an Durchfall und Kopfschmerzen.“ Die meisten belassen es nicht dabei, sich in der Apotheke zu beschweren – die sächsischen Behörden im Erzgebirge zählen allein für das vergangene Jahr 1.400 Ersuche um Überprüfung des Gestanks.

Nach einer Lösung des Geruchsproblems rufen die Einheimischen schon seit 1996, als sie den Gestank zum ersten Mal wahrnahmen. Das Umweltministerium schickte damals Inspektoren in die Region. Sie suchten nach den üblichen Quellen für Gerüche aus der Chemieindustrie wie zum Beispiel Schwefeloxid oder Stickstoffoxid und maßen Luftströme. Sie bemerkten, dass es vor allem dann Beschwerden gab, wenn der Wind aus Südosten wehte, also aus Böhmen, und mobilisierten deswegen auch ihre tschechischen Kollegen. Die inzwischen eingestellte Tageszeitung „Slovo“ stellte im Frühjahr 1998 eine günstige Prognose: „Der Ursprung des unangenehmen Gestanks, über den sich die Bürger Sachsens beschweren, wird bis Ende August bekannt sein.“ Stattdessen bestätigten die Messungen auf beiden Seiten der Grenze aber nur, dass die Konzentration beider Oxide in Tschechien und in Deutschland unterhalb der zulässigen Grenzwerte lag. Die Quelle des Problems wurde nicht gefunden.

Weil der Mensch Stoffe riechen kann, die technische Geräte nicht erfassen, brachen – nachdem die Inspektoren gescheitert waren – zwei 20-köpfige Teams ausgebildeter „Riecher“ ins Grenzgebiet auf. Sie verbrachten dort fünf Monate – die Tschechen schnüffelten auf der tschechischen und die Deutschen auf der deutschen Seite – und kamen überein, dass der Gestank tatsächlich existiert. Jedes Team nahm jedoch etwas anderes war. „Während die Tschechen am häufigsten Abgase und Teer aus heimischen Öfen in der Luft verspürten, kreuzten die Deutschen in ihren Tagebüchern meistens industrielle Mercaptane (Schwefelverbindungen) und Gestank vom Typ Katzenexkremente an“, heißt es im Abschlussbericht der Studie.

Die tschechischen Behörden folgerten daraus, dass es wahrscheinlich auf beiden Seiten unterschiedliche Ursachen für den Gestank gäbe und sie deshalb, was den Geruch in Sachsen betraf, aus dem Schneider seien. Sie machten zwar weiterhin die vorgeschriebenen Messungen, hörten aber auf, aktiv nach der Ursache zu suchen. „Wir haben die üblichen Methoden ausgeschöpft“, meint Helena Plachá vom Hydrometeorologischen Institut in Ústí nad Labem, das sich mit den Beschwerden der Sachsen auf tschechischer Seite befasst. „Wer weiß, was die Deutschen eigentlich spüren – und ob es überhaupt irgendetwas ist. Die Beschwerden nehmen durch einen seltsamen Zufall immer vor Kommunalwahlen zu“, ergänzt die Wissenschaftlerin.

Nachdem auch weniger geläufige Schadstoffe ausgeschlossen waren, flaute das Interesse an einer Lösung des Problems auch bei den sächsischen Behörden ab. Doch der Gestank kam zurück und mit ihm gesundheitliche Beschwerden. „Neben einzelnen Schadstoffen kann auch der Stress, den der Gestank hervorruft, Durchfall oder Kopfschmerzen auslösen“, erklärt der Psychiater Martin Konečný. Das Ausmaß der Beeinträchtigung sei zum Beispiel mit hoher Lärmbelastung vergleichbar. In Sachsen gründete sich deshalb um die Jahrtausendwende die Bürgerinitiative „Für saubere Luft im Erzgebirge“, die gegen den Gestank zu kämpfen begann. „Natürlich kocht das Thema gerade vor den Wahlen immer wieder hoch, aber das ist nicht verwunderlich, schließlich ist es eines unserer größten Probleme“, entgegnet der Vorsitzende der Bürgerinitiative Hartmut Tanneberger den Zweifeln der Wissenschaftlerin Plachá.

Der damals noch berufstätige Elektriker machte sich mit Kollegen daran, mit der Bitte um weitere Untersuchungen, Behörden abzuklappern. „Das Schlimmste ist, dass man nicht weiß, ob es gefährlich ist oder was das hier in der Luft überhaupt ist“, sagt der 67-Jährige. Auf den Ämtern hörte er aber über Jahre hinweg nur die Feststellung, dass es „kein Geld für weitere Untersuchungen“ gebe.

Die Reihe der Abweisungen durchbrachen die sächsischen Aktivisten erst im Jahr 2010, als sie sich an die Europäische Union wandten. Für ihre Petition, mit der sie das EU-Parlament um Hilfe baten, sammelten sie mehr als 11.000 Unterschriften. Der Petitionsausschuss des Parlaments kam ihrer Petition zwar mit der Feststellung, dass die herkömmlichen Schadstoffe „auf beiden Seiten der Grenze in Ordnung“ seien, nicht nach. Die Aktion weckte allerdings die Aufmerksamkeit der Medien und die sächsischen Behörden schickten noch einmal Inspektoren ins Erzgebirge, um weitere Messungen vorzunehmen. „Wir haben 50 verschiedene Stoffe ausgeschlossen, die Gestank verursachen können, aber die Quelle haben wir leider wieder nicht gefunden“, fasst der Pressesprecher des sächsischen Umweltministeriums Falk Hofer zusammen.

Moralische Verantwortung
Ungeachtet der Verschleppung und unklarer Untersuchungsergebnisse sind sich die Sachsen in einer Sache einig: Die Quelle muss auf der tschechischen Seite des Gebirges liegen. „Neben der nachgewiesenen Luftströmung an den problematischen Tagen deutet darauf auch die Tatsache hin, dass alle großen Fabriken nach der Wende verschwunden sind“, erklärt der Aktivist Tanneberger. Das bestätigt auch der Bürgermeister von Olbernhau Steffen Laub. Er regiert die Stadt seit der Wende und hat Dutzende Verhandlungen auf beiden Seiten der Grenze miterlebt. Seiner Ansicht nach gestaltet sich die Angelegenheit vor allem deswegen so schwierig, weil es sich um ein grenzüberschreitendes Problem handle. „Wenn die Quelle in Deutschland läge, würde ich die verdächtige Fabrik persönlich aufsuchen und Druck auf die zuständigen Behörden ausüben, damit sie Messungen machen. Wegen der Sprachbarriere geht das in Tschechien aber nicht so einfach, außerdem weiß ich nicht einmal, zu welcher Institution ich gehen soll“, erklärt der 60-jährige mit ruhiger Stimme.

„Die Unfähigkeit unserer Ämter, den Stoff zu ermitteln, der hier so stinkt, ist das eine“, sagt Laub. „Aber die Arroganz, die Vertreter von Česká rafinérská und Unipetrol uns gegenüber immer an den Tag legen, ist das andere“, beschwert er sich in seinem Arbeitszimmer in Olbernhau. „Zweimal kamen sie hierher, an einem Tag, an dem es genauso schön sonnig war wie heute. Sie haben uns verspottet und gefragt, was wir haben, es würde hier doch nicht stinken“, so der Bürgermeister, demzufolge die tschechischen Firmen zwar „sauber“ seien, weil sie die geltenden Vorschriften einhielten. Moralisch beurteilt er die Sache jedoch anders. „Sie sind die größten Verschmutzer in der Region, aus welcher der Wind an den stinkenden Tagen erwiesenermaßen kommt. Diese Firmen haben eine moralische Verpflichtung mehr zu machen, als bloß festzustellen, dass die Grenzwerte eingehalten werden. Sie sollten das Potential ihrer Chemiker nutzen, um aktiv bei der Suche nach der Quelle des Gestanks zu suchen.“

Im tschechischen Litvínov wird das anders gesehen. „Im Umkreis unseres Werks gibt es keine Beschwerden, also sehe ich keinen Grund dafür, dass wir uns irgendwie moralisch verpflichtet fühlen sollten, nach der Lösung dieses Rätsels zu forschen“, erklärt der Pressesprecher von Unipetrol Mikuláš Duda.

Ausbleibende Ergebnisse auf der tschechischen Seite wecken in Sachsen auch außerhalb offizieller Stellen Misstrauen. Die Seiffener Apothekerin Diana Kühnel zum Beispiel erklärt sich die Passivität der tschechischen Behörden damit, dass die Chemiefabriken in der Umgebung von Litvínov und Most zu den wichtigsten Arbeitgebern zählen. „Vielleicht fürchten die Beamten dort, dass die Firmen sich aus der Region zurückziehen, wie es hier bei uns passiert ist – und sie drücken ein Auge zu, wenn es darum geht, was sie in die Luft blasen.“

Die tschechischen Ökologen, die sich zumindest ein wenig für das „Problem Katzendreck“ interessieren, geben den hiesigen Behörden recht: Nachdem die Sachsen bei den letzten Messungen weitere geläufige Stoffe ausgeschlossen haben, sind die Ermittler angeblich in einen ziemlich unübersichtlichen Bereich geraten. „Einige Stoffe stinken bereits in Mengen, die gängige Geräte nicht ermitteln können. Für andere gibt es keine Grenzwerte. Und dann könnten den Geruch auch verschiedenste Verbindungen aus Stoffen hervorrufen, die für sich allein nicht stinken“, nähert sich Jindřich Petrlík, Leiter des Programms „Toxische Stoffe und Abfälle“ der NGO „Arnika“, an das Problem an. „Das kann dadurch entstehen, dass die Berge auf der tschechischen Seite steil und hoch sind und auf der anderen Seite ein langgezogenes Plateau liegt. Es ist möglich, dass die Luft unter bestimmten meteorologischen Bedingungen schnell über die Berge nach Deutschland gesogen wird“, sagt Petrlík. Wahrscheinlicher sei jedoch die Variante, dass sich die stinkenden Stoffe bei Inversionswetterlage verbreiteten, wenn sie sich auf der Ebene des „Deckels“ der Inversion akkumulieren, der in einer Höhe liegen kann, in der sich in Tschechien keine Ortschaften befinden, in Deutschland aber schon. Oder aber die Stoffe vermengen sich tatsächlich erst in Deutschland, wo die einzelnen Elemente zum Beispiel bei höherer Luftfeuchtigkeit reagieren.

Neue Impulse
Die Aufklärung der Frage, was in Sachsen stinkt, liegt so nah wie noch nie in den vergangenen 20 Jahren. Das Wetter im zurückliegenden Jahr begünstigte nämlich die Inversion. Der Gestank plagte die Sachsen daher nicht ein paar Wochen wie gewöhnlich, sondern ganze drei Monate. Die Zahl der Beschwerden vervierfachte sich im Vergleich zum Vorjahr und deutsche wie tschechische Medien berichteten über das Thema. Ausschließlich wegen des Katzendrecks trafen sich der tschechische und der sächsische Umweltminister. Sie kamen überein, dass die Tschechen schneller auf Beschwerden von der sächsischen Seite der Berge reagieren müssen: Diese sollen direkt an die Tschechische Umweltinspektion (ČIŽP) gehen und nicht wie bisher über das  Hydrometeorologische Institut. Und die Sachsen setzen die Suche nach dem Stoff, der bei ihnen stinkt, fort. „Es scheint immer noch am wahrscheinlichsten, dass irgendwelche Mercaptane die Ursache für den Geruch sind. Aber die verfügbaren Methoden, um das festzustellen, haben wir schon ausgeschöpft. Wir werden uns jetzt stärker bemühen, neue Verfahren zu entwickeln“, sagt Ministeriumssprecher Falk Hofer mit dem Hinweis, dass ab Mai ein Wissenschaftler für diese Aufgabe eingestellt werden soll.

Sollte die Stoffverbindung gefunden werden, heißt das aber nicht automatisch, dass das Problem damit beseitigt ist. „Die Zerstreuung chemischer Stoffe in der Atmosphäre ist ein komplizierter Prozess. Einen Schuldigen zu finden, nachdem das Gemisch bereits entstanden ist, und auf rechtlichem Wege für Besserung zu sorgen, das wird eine ziemlich harte Nuss werden“, erklärt Petrlík.

Auf der sächsischen Seite der Grenze beginnt man sich langsam an den Gedanken zu gewöhnen, dass man möglicherweise weiterhin mit dem Gestank leben muss. „Der Geruch wird mich nicht aus dem Ort vertreiben, den ich lieber habe als alle anderen auf der Welt“, sagt Hartmut Tanneberger. „Aber ich wäre beruhigter, wenn sich bestätigen würde, dass der Gestank nicht gefährlich für meine Enkel ist – oder dass ich alles unternommen habe, damit das überprüft wird.“

Der Text erschien zuerst in der Wochenzeitschrift „Respekt“ Nr. 13/2015. Autor: Lucie Kavanová, Übersetzung: Corinna Anton

Das Unternehmen Unipetrol legt Wert auf die Feststellung, dass es bei der Suche nach der Quelle des Gestanks immer zu einem Höchstmaß an Zusammenarbeit bereit gewesen sei. Es habe zum Beispiel unabhängige Messungen durchgeführt, wie es in einer nach Erscheinen des Artikels verkündeten Stellungnahme heißt.

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