Das politische Spiel
Warum Eishockey der Nationalsport der Tschechen ist
19. 2. 2014 - Text: Till JanzerText: Till Janzer; Foto: ČTK/Stanislav Peška
Die Schokoladentorte für den Superstar kam von deutschen Köchen, die im Haus des Internationalen Eishockeyverbands in Sotschi die Töpfe füllen. Deswegen stand auch „Happy Birthday“ drauf und nicht der entsprechende Spruch auf Tschechisch. Einem Weltenbummler wie Jaromír Jágr dürfte es egal gewesen sein. Am zurückliegenden Samstag ist der Spieler, der immer noch stellvertretend steht für das heutige tschechische Eishockey, 42 Jahre alt geworden. Auch bei den Olympischen Winterspielen am Kaukasus gilt er als Leistungsträger im Team von Nationaltrainer Alois Hadamczik. Man könnte das erstaunlich nennen, eher ist es aber ein Warnzeichen. Denn Tschechiens Position an der Weltspitze ist in den vergangenen Jahren wacklig geworden.
Aber die Frage lautet: Wie konnte das tschechoslowakische und später das tschechische Eishockey überhaupt Weltrang erlangen? Der frühere Nationalspieler und spätere Erfolgscoach Vladimír Růžička hat das vor einiger Zeit auf eine einfache Erklärung reduziert: „Wir Tschechen haben das Eishockeyspiel in unseren Genen.“
Frühe Erfolge
Tatsache ist, dass das damalige Böhmen im Jahr 1908 zu den fünf Gründungsmitgliedern der Internationalen Eishockey-Föderation (IIHF) gehörte. Noch vor dem Ersten Weltkrieg wurde das Land dreimal Europameister. Bemerkenswert ist aber die Entwicklung dann in der Tschechoslowakei. Noch in den zwanziger Jahren gab es im ganzen Land kein einziges Stadion mit Kunsteis, trainiert wurde auf zugefrorenen Teichen, oder man spritzte bei Frost einfach Wasser auf eine Wiese. „Wenn aber Tauwetter war, mussten die tschechischen Eishockeyspieler ins Ausland fahren – am häufigsten nach Davos, Berlin und Wien, oder auch etwas weiter weg, nach London, Antwerpen und Paris“, sagt der Sportpublizist David Soeldner. Trotzdem wurde die Tschechoslowakei dreimal Europameister.
1931 kam es zu zwei wichtigen Wendepunkten: Im Januar wurde auf der Prager Moldau-Insel Štvanice das erste Kunsteisstadion der Tschechoslowakei eröffnet. Im selben Jahr startete zudem die „Tschechoslowakische Liga des kanadischen Hockeys“. Innerhalb weniger Jahre war sie dann die stärkste in Europa mit 381 angeschlossenen Vereinen.
Absturz nach dem Krieg
In dieser Zeit wächst die erste große Eishockey-Generation des Landes heran. Erst nach dem Krieg kann sie aber die Früchte ernten: 1947 wird die Tschechoslowakei vor eigenem Publikum erstmals Weltmeister und wiederholt zwei Jahre später den Triumph. Zwei schwere Schicksalsschläge bedeuten jedoch das Ende. 1948 sterben sechs Nationalspieler bei einem Flugzeugabsturz über dem Ärmelkanal. Und kurz vor der WM 1950 lässt die tschechoslowakische Stasi elf Weltmeister verhaften. Wegen angeblicher Spionage werden sie zu teils hohen Haftstrafen verurteilt. Europas bester Torhüter Bohumil Modrý erhält zum Beispiel 14 Jahre Straflager und Gefängnis, sein Schicksal hat letztens der österreichische Autor Josef Haslinger in einer Roman-Biografie verarbeitet.
Es dauert lange, bis sich die tschechoslowakische Equipe von dem Schlag erholt. Mittlerweile haben die Sowjets die Weltspitze erobert. Aber in der Tschechoslowakei steigt die Zahl der Vereine und der Aktiven. Nach dem Krieg hatte das Spiel mit Schläger und Puck trotz der Erfolge eigentlich noch zu den Randsportarten gehört: In 70 Vereinen spielten 1.600 Spieler. Ende der sechziger Jahre sind bereits 80.000 Aktive in 1.600 Vereinen registriert. Die Hälfte davon sind Jugendspieler.
Das ist der Grundstein für die nächste goldene Generation, die zudem ihre Motivation noch aus einer besonderen Rivalität zieht. Nach 32 Niederlagen in Folge gelingt es dem tschechoslowakischen Team 1968 erstmals, die Sowjets auf dem Eis zu schlagen. Bei den Olympischen Winterspielen in Grenoble besiegt es die „Sbornaja“ mit 5:4. Vor dem Hintergrund des Prager Frühlings, der politischen Reformbewegung im Land, entsteht eine unglaubliche Euphorie. „Beim Anflug auf Prag musste unser Flugzeug durchstarten, weil die Menschen vor Begeisterung auf die Landebahn rannten“, erzählte Jahre später Mannschaftskapitän Jozef Golonka. Dabei hatte die Tschechoslowakei die Goldmedaille verpasst und „nur“ Silber geholt.
Nationale Ehrensache
Am 21. August 1968 walzten dann die Panzer den Prager Frühling nieder und die Tschechoslowakei kam unter sowjetische Besatzung. Das Eishockey wurde zum Ventil und zur nationalen Ehrensache zugleich, was sich gleich bei der WM im März 1969 in Schweden zeigte. Zweimal siegte die Tschechoslowakei gegen die UdSSR. „Wir haben uns ein bisschen wie Oppositionelle verhalten.
Vielleicht wissen das nur wenige: Aber wir haben den Sowjets nach den Spielen den Handschlag verweigert. Das war zu den damaligen Bedingungen eigentlich unvorstellbar, und es drohte ziemliches Ungemach“, so Golonka. Das Ungemach kam jedoch nicht – wohl auch aus Angst vor der Reaktion der Massen griffen die kommunistischen Machthaber nicht durch.
Denn nach der Rückkehr mündete eine Siegesfeier von 500.000 Menschen auf dem Prager Wenzelsplatz in antisowjetische Demonstrationen, mit Spruchbändern wie „Vy nám tanky, my vám branky“ („Ihr schickt uns Panzer, wir euch Tore“) oder „ČSR – okupanty 4:3“. Es kam sogar zu einer innen- und außenpolitischen Krise.
Dennoch durfte die neue Eishockeygeneration – anders als jene nach dem Krieg – auch an den folgenden Weltmeisterschaften teilnehmen. 1972 richtete die Tschechoslowakei erneut die Titelkämpfe aus. Stürmer Jaroslav Holík erinnerte sich letztens, dass die Begeisterung noch größer war als drei Jahre zuvor. Wenn der Mannschaftsbus durch die Straßen Prags zum Training fuhr, hätten die Menschen die Fenster aufgerissen und gewinkt. Vor der Eishalle seien die Leute „Spalier gestanden“, so Holík. Die Equipe wurde erstmals nach 23 Jahren wieder Weltmeister – und war erneut an der Weltspitze angekommen. Es folgten zwei weitere Titel.
Coup in Nagano
Die nächste goldene Generation – mit Ausnahmestürmer Jaromír Jágr und „Hexer“ Dominik Hašek im Tor – erhält im kommunistischen Sportsystem ihre Ausbildung und kann nach der politischen Wende erstmals alle Freiheit auskosten. Das bedeutet auch, dass die Besten in die NHL abwandern. Zuvor hatten nur altgediente tschechoslowakische Stars die Freigabe für die nordamerikanische Profiliga erhalten.
Die jungen Wilden starten bei der WM 1996 mit dem Titelgewinn erstmals durch. Und sie landen auch den größten Coup der tschechischen Eishockeygeschichte: den Olympiasieg beim „Jahrhundertturnier“ in Nagano, als erstmals selbst die NHL ihren Spielbetrieb unterbricht und den Profis die Teilnahme ermöglicht. Obwohl das Finale gegen Russland in den frühen Morgenstunden angepfiffen wird, pilgern die Menschen in Prag in Massen auf den Altstädter Ring zur Liveübertragung. Es sind über 100.000, die dort das Spiel sehen und beim 1:0-Führungstreffer (der sich dann als Siegtreffer herausstellt) in einen kollektiven Freudentaumel ausbrechen. „Hašek na hrad“ – „Hašek auf die Burg“ ist die Losung, als die Spieler einige Tage darauf aus Japan zurückkehren. Erneut Eishockey und Politik.
In der Krise
In den folgenden Jahren steht das tschechische Eishockey im Zenit, es folgen noch fünf WM-Siege. Zeitweise sind 70 tschechische Spieler bei NHL-Vereinen unter Vertrag. Doch nach und nach beenden diese Stars ihre Karrieren, und aus dem heutigen Team für Sotschi stand nur Jágr schon in Nagano auf dem Eis. Zugleich geht Tschechien aus verschiedenen Gründen der Nachwuchs aus, die letzte Medaille der tschechischen Junioren stammt aus dem Jahr 2006.
Aber immer noch hat das Eishockey hierzulande eine besondere Aura. Selbst ohne die ganzen Stars, die in der NHL spielen, zieht die Landesliga im Schnitt mindestens so viele Zuschauer an wie die höchste Spielklasse im Fußball. Und wenn das Nationalteam antritt, sitzen die Menschen dicht gedrängt in den Kneipen vor den Fernsehern. Dort hängt dann meist auch das Trikot mit der Nummer 68: Jaromír Jágrs symbolbehaftete Zahlenwahl in Erinnerung an den sowjetischen Einmarsch.
„So schlimm war`s nicht“
Die Messi-Show