Das Abenteuer des 20. Jahrhunderts

Das Abenteuer des 20. Jahrhunderts

Roman Ráž erzählt Schicksale von drei Generationen, gezeichnet von politischen Umwälzungen

20. 5. 2015 - Text: Maria SilenyText: Maria Sileny; Foto: privat

Es ist ein lauer Frühlingsabend in Prag. In einem Literaturcafé nahe dem Altstädter Ring, abseits der Touristenströme, hat sich eine Gesellschaft versammelt, es wird Musik gespielt, Sektkorken knallen. Im Mittelpunkt steht ein hochgewachsener Mann im weißen Anzug. Es ist der Schriftsteller Roman Ráž. Er lächelt, schüttelt Hände, bedankt sich. Nein, an jenem Abend feiert er nicht seinen 80. Geburtstag, das wird einige Tage später geschehen. Gefeiert wird sein neuestes Buch, das druckfrisch auf einem der Cafétische bereit liegt. Der Titel: „Kurhoffnungen“ („Lázeňské naděje“). Auf 430 Seiten erzählt Roman Ráž darin die Geschichte einer Familie vor dem Hintergrund des Zweiten Weltkriegs. Es ist seine Familie. Das politisches Geschehen der dreißiger und vierziger Jahre bricht in den Alltag der Romanhelden ein, formt alles um.

„Unsere Schicksale? Meist sind es nur bedeutungslose Details vor dem Hintergrund großer Ereignisse …“, heißt es im Prolog des Buchs. Um ein authentisches Bild der Epoche zu zeichnen, hat der Schriftsteller in mühsamer Kleinarbeit Zeitungsberichte, Tagebucheinträge und Erinnerungen von Zeitzeugen ausgewertet. Vieles ließ er sich von seiner Großmutter erzählen, die er im Buch Marie Klánská nennt.

Eigentlich, sagt Ráž über einem Glas Wein, habe er den Roman ihr und ihrem bewegten Leben gewidmet. Und nicht nur diesen. Seine Großmutter, eine Wiener Tschechin, die 1903 ihrem Ehemann in den mährischen Kurort Luhačovice folgte, ist auch die Hauptperson im Roman „Kurabenteuer“ („Lázeňské dobrodružství“), der vor einem Jahr erschien. Darin schildert Ráž das Leben der Großmutter in den ersten zwei Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts, nicht zuletzt ihre schwierige Ehe mit dem Großvater – einem Restaurantbesitzer und späteren Bürgermeister. Gemeinsam mit Marie Klánská erleben Leser aber vor allem den Ausbruch des Ersten Weltkrieges und seinen Verlauf bis hin zum Zerfall Österreich-Ungarns. Sie, die Mutter von vier Kindern (im Buch sind es zwei), musste während der Kriegsjahre das Kur-Restaurant alleine leiten. Der Großvater kehrte mit einem Lungendurchschuss aus dem Krieg zurück. Ráž lässt ihn kapitelweise zu Wort kommen und von der Front berichten. Einfache Sätze umreißen die Hölle des Krieges: „Der sanfte Abhang unter uns ist besät von menschlichen Körpern in Uniformen. Die Männer von der dritten und vierten Truppe. Gespreizte Beine, Arme, manche bewegen sich noch, irgendjemand unter ihnen schreit verzweifelt …“ In anderen Kapiteln dokumentiert der Schriftsteller schwankende gesellschaftliche Stimmungen im zerfallenden Österreich-Ungarn. In „Das Kurabenteuer“ zeichnet er ein plastisches, vielschichtiges Bild einer ganzen Epoche.

Literarisches Denkmal

Der nun neu erschienene Roman „Kurhoffnungen“ ist der zweite Band einer geplanten Trilogie, die das gesamte 20. Jahrhundert aus dem Blickwinkel unterschiedlichster Menschen erfassen soll. Alltägliches, Allzumenschliches ist darin eingebettet in große politische Entwicklungen eines ganzen Kontinents. Generationen kommen zu Wort.

Zeitgeschichte ist ein neuer Zug im vielfältigen Schaffen von Roman Ráž. Der promovierte Filmwissenschaftler, Dramaturg und Kunsthistoriker schrieb bislang Hörspiele, Drehbücher und Romane zu unterschiedlichsten Themen. Das Bedürfnis, seiner Großmutter ein literarisches Denkmal zu setzen, habe ihm Mut verliehen, weit auszuholen und die Geschichte des 20. Jahrhunderts zu erzählen, sagt er.
In „Kurhoffnungen“ ist Rážs Großmutter bereits um die 60 Jahre alt, ihre Kinder und Enkelkinder übernehmen das Ruder. Das Geschilderte, versichert der Schriftsteller, sei „sehr wahr“. Dabei scheut er nicht zurück, selbst empörende Geschehnisse zu thematisieren, so zum Beispiel die Liebe zwischen seiner mährischen Cousine und einem jungen Mann der Hitlerjugend. Auch der Schriftsteller selbst kommt im Buch vor, als zehnjähriger Junge, dem sich der Zweite Weltkrieg als eine kaum fassbare Angst um die kindliche Seele legt.

Den dritten Band der Trilogie, das verrät Roman Ráž an jenem festlichen Abend im Prager Literaturcafé, plant er für das Jahr 2018, da sich der Prager Frühling zum 50. Mal jähren wird. Darin will er die Epoche des Kommunismus in Europa aufarbeiten, von 1946, dem Jahr der kommunistischen Machtergreifung, bis hin zum Zusammenbruch des diktatorischen Regimes 1989. In dem Werk will er selbst die Rolle des Zeitzeugen übernehmen, denn diese Jahrzehnte haben sein Leben geprägt. Sein Vater, ein Prager Unternehmer, wurde 1950 Opfer eines politischen Prozesses und starb während der Haft. Für den jungen Roman Ráž bedeutete das nicht nur eine seelische Wunde, sondern auch eine Einstufung als „politisch unerwünscht“.

1956 wurde er zum Beispiel wie ein gefährlicher Verbrecher von drei Polizisten mit vorgehaltener Pistole verhaftet. Der Grund: In einer Kneipe hat er mit anderen Studenten über den ungarischen Volksaufstand diskutiert. Nach einem Verhör voller Drohungen wurde er schließlich entlassen. Ráž schmunzelt, wenn er das erzählt. Diese und andere Episoden will er im geplanten Buch erzählen, mit Humor werde er zurückblicken.

Erfolge im Ausland

Der Künstler debütierte in den sechziger Jahren mit einer Sammlung von Kurzgeschichten. Dann fing er an, Hörspiele zu schreiben. Zunächst waren es absurde, philosophische Werke, so wie „Hände über dem Wasser“ („Ruce nad vodou“). Hat ein zum Tode Verurteilter, der in einer Flutwelle zu ertrinken droht, das Recht, gerettet zu werden? Das Hörspiel mit dieser Fragestellung weckte damals auch im Ausland Interesse, wurde in mehrere Sprachen übersetzt und in Kanada, Irland, Italien, Deutschland und der Schweiz gesendet. Auch andere Hörspiele Rážs bahnten sich den Weg über die Grenze.

Die hoffnungsvolle Entwicklung endete jäh mit der Zerschlagung des Prager Frühlings. 1970 wurde Ráž aus dem Fernsehen und dem Hörfunk hinausgeworfen, als Dramaturg durfte er sich keinem Theater nähern, die Auflagen dreier seiner Buchtitel wurden vernichtet, jede kulturelle Arbeit wurde ihm offiziell untersagt. Hätte er Straßenarbeiter werden sollen? Er beschloss, freischaffender Schriftsteller zu werden und lebte davon, unter verschiedenen Pseudonymen Hörspielfassungen von Romanen zu schreiben. Er blieb in Deckung, wie er sagt, bis in den achtziger Jahren Entspannung folgte und er nach und nach auf die kulturelle Bühne zurückkehren konnte.

Nun ist Roman Ráž runde 80 Jahre alt. Mit Stolz kann er auf sein bewegtes Leben und reichhaltiges Schaffen zurückblicken: 24 Romane, zwei Drehbücher und 15 Rundfunkspiele hat er geschrieben. Sieben noch unveröffentlichte Werke liegen in seiner Schublade. Dabei schreibt er bereits an einem neuen Roman. „Der Mann und die Rose“ möchte er ihn nennen. Es gehe um die Liebe eines älteren Mannes zu einer viel jüngeren Frau. Roman Ráž lacht. Das mache er, um sich zwischendurch von dem anspruchsvollen historischen Stoff zu erholen.