Bühnenzauber für Vergessene

Bühnenzauber für Vergessene

Das Puppenspiel-Ensemble Divadlo Líšeň engagiert sich für Minderheiten

31. 7. 2013 - Text: Franziska NeudertText: Franziska Neudert; Foto: Divadlo Líšeň

 

Wladimir Putin im Hochsommer beim Skifahren. Mit weiten Schwüngen fährt er den Hang hinunter. Kurz vor dem Abgrund bleibt er stehen. Der Abgrund, das ist das Ende eines hölzernen Schreibtischs, die Piste dessen ausgebleichte Platte. Auf der anderen Seite sitzen ungläubige Zuschauer, die den russischen Präsidenten bei seinem wahnwitzigen Treiben beobachten. Putin im Juli beim Wintersport – das ist wohl nur in der absurden Zauberwelt des Theaters möglich.

„Putin fährt Ski“ („Putin lyžuje“) heißt das Schauspiel der Theatergruppe „Divadlo Líšeň“. Wäre die Geschichte, die dem Stück zugrunde liegt, nicht so tragisch, würde das Publikum wahrscheinlich unbefangen lachen.
Die Mischung aus Erzähl- und Figurentheater basiert auf den Tagebüchern der russisch-amerikanischen Reporterin Anna Politkowskaja, die im Oktober 2006 in ihrer Moskauer Wohnung ermordet wurde. Bekannt wurde die Aktivistin durch ihre Berichte über die Verbrechen der russischen Armee während des Tschetschenienkriegs. Ihre offenen Schilderungen des „schmutzigen Kriegs“ dürften der Journalistin das Leben gekostet haben.

Die „russischen Szenen“ auf der Schreibtischplatte drehen sich um Korruption, Terror, Armut und ein Staatsoberhaupt, das über Leichen geht. Für die Inszenierung erhielt die Theaterleiterin Pavla Dombrovská 2011 beim Internationalen Festival für Puppenspiel im polnischen Torun den Preis für die Beste Regie. Heute gehört die Theatergruppe zu den bedeutendsten Puppenspiel-Ensembles Tschechiens. Dabei ist es gar nicht so einfach die Truppe auf dieses Genre festzulegen. Sich selbst versteht Divadlo Líšeň als ein auf experimentelles Autorenschaffen basiertes unabhängiges Theater. Zu den Darstellungsmitteln zählen Puppen und Masken, Tanz und Gesang, der menschliche Körper und dessen Grenzen. „Unser Theater arbeitet mit den verschiedensten Mitteln, mit denen wir die Welt wahrnehmen“, erklärt Dombrovská. Die studierte Theaterwissenschaftlerin gründete das Ensemble 1998 mit ihrem Ehemann Luděk Vémola, mit dem sie bereits im Brünner „Studio Dům“ auf der Bühne gestanden hatte. Der Wunsch nach kreativer Freiheit und Verantwortung für das Selbstgeschaffene wuchs. Nachdem die beiden auch im Theater im westböhmischen Cheb (Eger) tätig waren, „wurde klar, dass ein eigenes Theater als Grundlage her musste“, berichtet Dombrovská.

Vom Hühnerstall zur Bühne
Eine Heimstätte fanden sie in einem kleinen Landhaus in Líšeň, einem Vorort von Brünn. Aus dem Gerümpel der Vormieter entstand so manch Requisite für die neuen Inszenierungen, der ehemalige Hühnerstall wurde zur Theaterwerkstatt umfunktioniert.

Sein Debüt gab das Theater 1999 mit dem Schattenspiel „Sávitrí“. Das Stück beruht auf dem altindischen Mythos über die gleichnamige Prinzessin, die ihren Mann aus den Fängen von Gevatter Tod befreit. Für die Inszenierung erhielt die Gruppe zahlreiche Auszeichnungen, sowohl im In- als auch im Ausland begeisterte sie Jung und Alt. Mittlerweile wurde „Sávitrí“ auch in andere Sprachen übertragen und reist mit der Gruppe um die Welt.

Zum Ensemble zählen heute vier ständige Mitglieder; zeitweilig aber wächst die Zahl der Beteiligten auf bis zu 60 an. Das Theater kooperiert mit einer Vielzahl externer Schauspieler und Musiker, zum Beispiel mit der Roma-Band „Paramisara“ oder mit Studenten und Absolventen der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst in Brünn. Nicht nur mit anderen Künstlern stellt Divadlo Líšeň Projekte auf die Beine, sondern vor allem auch mit den Bürgern der Stadt. Das war von Anfang an ein wichtiges Anliegen für die Theatermacher. Mit dem Projekt „Theater für vergessene Zuschauer“ („Divadlo zapomenutému publiku“) versucht die Gruppe seit 14 Jahren auch ein Publikum zu erreichen, das dem Theater in der Regel fernbleibt und gastiert in Krankenhäusern, psychiatrischen Anstalten, Altersheimen oder Flüchtlingslagern.

Spielerische Experimente
Unter anderem mit Aktionen wie „Mit den Roma über Roma“ („S Romy o Romech“) und „Roma-Tanz“ bemüht sich das Ensemble, Grundschüler für die Kultur der Minderheit spielerisch zu sensibilisieren. Auch dieser Aspekt gehört zum Selbstverständnis der Theatergruppe: die Auseinandersetzung mit den Menschenrechten, zum Beispiel mit der Diskriminierung von Minderheiten. „Wir beschäftigen uns schon seit Langem mit der Kultur der Roma und den damit verbundenen rassistischen Tendenzen in der tschechischen Gesellschaft“, erzählt Kateřina Bartošová. Durch einen Zufall kam sie 2002 zum Ensemble hinzu. „Als ich damals eine Aufführung von Sávitrí besucht habe, stellte ich überrascht fest, dass es sich bei einem der Puppenspieler um meine ehemalige Kommilitonin Pavla handelt. Von Einsatz und Unverblümtheit der Truppe war ich auf Anhieb begeistert. Und von ihrer Sicht auf die Dinge.“

Spielerisch experimentiert das Theater mit seinen Geschichten und Figuren. „Die finden eher mich als ich sie“, beschreibt Dombrovská den Weg zu den Stücken. „Unsere Inspiration ist das Leben, das wir führen. Die Welt, die uns umgibt und die Menschen.“ Die Künstlerin arbeitet derzeit  an einem neuen Stück über den Holocaust, Ideologien und die grundlegendsten Aspekte des menschlichen Daseins.

In den kommenden Wochen geht die Truppe erst einmal auf Reisen. Vier Länder stehen auf dem Programm. Auch das deutsche Publikum kann sich auf den Brünner Theaterzauber freuen. Anlässlich des 40. Jubiläums der Städtepartnerschaft zwischen Brünn und Leipzig gastiert die Gruppe mit ihrer Handpuppengroteske „Requiem für ein Haus“ („Domovní requiem“) in der Messestadt. Die bitterböse Geschichte über Leben und Sterben in der Konsumgesellschaft geht am 23. und 24. August über die Leipziger Bühne des „Westflügels“.