Blick in die Presse

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Tschechische Pressekommentare zur Flüchtlingskrise

16. 9. 2015 - Text: Josef FüllenbachTextauswahl und Übersetzung: Josef Füllenbach

Verflüchtigte Illusion | Im Mittelpunkt des Interesses steht weiterhin die Flüchtlingskrise, so auch beim Wochenmagazin „Respekt“: Die derzeitige Situation „erteilt Europa eine ganz grundsätzliche Lektion. Konflikte, die sich in seinem Umfeld abspielen, kann es nicht einfach ignorieren. Die Illusion, die Kriege in Syrien und Libyen könnten in einem dort bemessenen Raum ‚geordnet’ ablaufen, während sich die Europäer ein paar Kilometer weiter um ihre eigenen Händel kümmern, hat sich im Laufe eines Sommers verflüchtigt. Wir wollten die Feuersbrünste nicht in ihren Epizentren löschen, jetzt lösen wir die Krisensituationen in den Zentren der europäischen Städte. (…) Die Rechnung, dass sich um die Stabilität des europäischen Umfeldes gewöhnlich in erster Linie der stärkere Partner jenseits des Atlantiks kümmert, ist diesmal auf schlimme Weise nicht aufgegangen.“

Flüchtlinge als Bumerang | Auch das Zweimonatsblatt ‚Listy’, nach der Invasion von 1968 von Jiří Pelikán, einem der prominentesten politischen Flüchtlinge, als Exilzeitschrift gegründet, schaut weit über die Ränder des böhmischen Kessels: „Da Europa in der Vergangenheit expansiv in den Rest der Welt ausgriff, ihn ausbeutete und darauf seinen Wohlstand baute, darf man diesen Zusammenhang nicht vergessen, wenn er als Bumerang in der Gestalt von Flüchtlingen zurückkehrt. Sicher wird der Zustrom von Flüchtlingen Europa verändern, die Europäer machten das Gleiche mit den Kulturen, die sie kolonisierten. Der Unterschied liegt darin, dass Europa heute viel größere Möglichkeiten hat, den ganzen Prozess (…) irgendwie zu einem harmonischeren Ende zu führen im Vergleich zu damals, als es durch die Kolonialisierung den Rest der Welt zu einem gewissen Grade zerstört hat.“

Naive Einschätzung | Nach der auch für Tschechien überraschenden Notbremse in der deutschen Flüchtlingspolitik meint die Tageszeitung „MF Dnes“: Falls Bundeskanzlerin Merkel damit „die ‚unbotmäßigen’ europäischen Staaten einschließlich Tschechiens zwingen wollte, Quoten zu akzeptieren, ist das Gegenteil eingetreten: Unter den Gegnern der Flüchtlingsaufnahme quer durch Europa verbreitet sich eher die Ansicht, dass ‚auch Deutschland es nun kapiert hat’ und Merkel bloß eingesehen hat, dass ihre Einschätzung der Situation vorher naiv war.“

Nötigung und Erpressung | Die Tageszeitung „Právo“ kommentiert zum gleichen Thema: „Für Tschechien stellt sich nun eine praktische Frage: Lässt sich die Regierung auf diese Weise dazu drängen, was sie aus insgesamt vertretbaren und vernünftigen Gründen ablehnt? Sofern nämlich ähnliche Formen der Nötigung und der Erpressung im Rahmen der Durchsetzung ‚europäischer Werte’ Erfolg haben sollten, muss man damit rechnen, dass sie von den westlichen Mitgliedern der EU immer dann genutzt werden, wenn sie den Widerstand der europäischen Neulinge dagegen brechen wollen, was nur die großen Spieler beabsichtigen.“

Gesellschaft der Verschiedenen | Die Online-Ausgabe der Zeitung „E15“ wundert sich über Deutschland: „Die Flüchtlingswelle hat einige Seiten der deutschen Politik stärker beleuchtet. Das prosperierende Deutschland beginnt sich in den letzten Jahren wie eine kontinentale Macht zu verhalten, die sich schon nicht mehr, wie in der gesamten Nachkriegszeit, von Frankreich einbinden lässt.“ Der einhellige Ruf nach verpflichtenden Quoten „klingt in tschechischen Ohren wie ein Echo der Breschnew-Doktrin der beschränkten Souveränität für den Sowjetblock. Ähnliche Einstellungen gibt es auch in der deutschen linken Szene. Hier gilt die Flüchtlingswelle als Möglichkeit, die Nation neu zu definieren und so die eigene Geschichte zu besiegen. Vor 14 Tagen fasste Präsident Gauck das zusammen: ‚Noch mehr Menschen als bisher lösen sich vom Bild eines Volkes, das homogen ist, dessen Muttersprache für fast alle Deutsch ist, in dem das Christentum und die helle Hautfarbe überwiegen (…) Wir müssen die Nation neu definieren als eine Gesellschaft der Verschiedenen.’ In diesem Verständnis soll Deutschland zum ersten Staat auf der Welt werden, der bis in die letzten Konsequenzen die Theorie des Multikulturalismus umsetzt, die aus dem traditionellen Volk eine ‚Gesellschaft der Verschiedenen’ macht, also verschiedener Kulturen, Sprachen und endlich auch der Gesetzgebung, was sich auch in unterschiedlichen Rechten für Männer und Frauen äußern kann.“