Beginn der Götterdämmerung?

Beginn der Götterdämmerung?

Ein Prüfbericht aus Brüssel setzt Andrej Babiš weiter unter Druck. Kann Tschechiens Premier die Causa „Interessenkonflikt“ politisch überleben?

5. 6. 2019 - Text: Josef Füllenbach, Titelbild: Vláda ČR

Am Dienstagabend fand auf dem Prager Wenzelsplatz die bislang größte einer Reihe von Demonstrationen statt, die seit Ende April 2019 Woche für Woche zunächst in Prag und zunehmend auch außerhalb der Hauptstadt von dem wachsenden Unmut der Menschen gegen die Regierung unter Andrej Babiš künden. Wenn die Schätzung der Organisatoren (120.000 Teilnehmer) zutrifft, handelt es sich bei der Kundgebung am 4. Juni sogar um die größte Demonstration seit den Massenaufläufen während der „Samtenen Revolution“ von 1989.

Ursprünglicher Anlass der Proteste war die plötzliche Ankündigung des Wechsels auf dem Posten des Justizministers. Kurz davor war bekannt geworden, dass die Polizei ihre Ermittlungen zu dem inzwischen auch im Ausland sattsam bekannten Korruptionsfall „Storchennest“ des Premierministers abgeschlossen und die Akten der Staatsanwaltschaft zur Entscheidung über die Anklageerhebung übergeben hatte. Die auffallend rasche Ablösung des farblosen Justizministers Jan Kněžínek durch die resolute und mit vielen Wassern gewaschene Marie Benešová gab Befürchtungen Nahrung, dass nun, sozusagen fünf vor zwölf, die Notbremse gezogen werden sollte.

Immerhin gilt Benešová als Vertraute des Staatspräsidenten Miloš Zeman, und sie hatte auch schon wissen lassen, dass sie die Vorwürfe gegen Babiš in der Causa „Storchennest“ als wenig stichhaltig betrachte. Zudem soll sie in einem an Zeman gerichteten Gutachten zu dem Schluss gekommen sein, in Tschechien könne man sich Strafverfahren gegen missliebige Personen des öffentlichen Lebens kaufen. Schließlich kündigte sie an – kaum hatte sie auf dem neuen Sessel Platz genommen – sie halte den Justizapparat für reformwürdig, wobei dessen Verschlankung im Vordergrund stehen sollte.

Kein Wunder also, dass viele begannen, sich um die Unabhängigkeit der Justiz Sorgen zu machen, und dass die Initiative „Milion chvilek pro demokracii“ („Eine Million Augenblicke für die Demokratie“), die die Demonstrationen organisiert, die umgehende Abberufung der neuen Justizministerin zur Hauptforderung erhob. Das hat sich inzwischen gründlich geändert. Zwar war Premierminister Babiš auch bisher schon eine der Zielscheiben der landesweiten Proteste. Doch seitdem die Europäische Kommission Ende Mai der tschechischen Regierung den Entwurf ihres Prüfberichts zur Frage von Interessenkonflikten Babišs vorgelegt hat, steht der Regierungschef (wieder) selbst im Zentrum aller Aufmerksamkeit und offensichtlich auch mit dem Rücken zur Wand. Die Causa „Interessenkonflikt“ ist nämlich von ganz anderem Kaliber als das vergleichsweise läppische „Storchennest“.

Justizministerin Marie Benešová nach ihrer Ernennung am 30. April | © Vláda ČR

Als Eigentümer von Agrofert, einem der größten Konzerne des Landes, und gleichzeitig als Premier (in der Legislaturperiode 2013-17 „nur“ als Vize-Premier und Finanzminister), mit Einfluss auf die Vergabe von Subventionen aus dem tschechischen Staatshaushalt sowie aus den verschiedenen Förderprogrammen der EU, muss er sich schon seit Jahren, eigentlich seit seinem Eintritt in die Regierung 2013, des Vorwurfs erwehren, in einem unauflöslichen Interessenkonflikt zu stehen.

Allen Anwürfen trat er bisher überaus selbstsicher und in dem Bewusstsein entgegen, dass jemandem, der mit großem Abstand die Parlamentswahlen gewonnen hat und die landesweiten Umfragen anführt, niemand etwas anhaben kann. Er hält es auch nicht für nötig, in der Sache mit Argumenten darzulegen, warum er in keinem Interessenkonflikt stehe. Es reicht ihm, diesen einfach zu verneinen, als „völligen Unsinn“ abzutun und zum Beispiel Transparency International oder die Piratenpartei (beide haben sich um Aufklärung mehr verdient gemacht als die traditionellen Oppositionsparteien) als korrupte Bande von Lügnern zu beschimpfen. Alle Kritik schien an der glatten Fassade des erfolgreichen Unternehmers (schon seit vielen Jahren zweitreichster Magnat Tschechiens) und nach eigener Einschätzung einzigen Politikers, der wirklich arbeitet und zupackt, abzuperlen.

Die Europäische Kommission hat den Entwurf des Prüfberichts zwar als vertraulich qualifiziert (der endgültige Bericht wird erst nach der Stellungnahme der tschechischen Regierung verabschiedet, also in einigen Monaten), aber die Annahme, ein solch brisantes Dokument könne der Öffentlichkeit vorenthalten werden, war naiv. Schon einen Tag nach Eingang in der Post der zuständigen Ministerien konnte jeder den Berichtsentwurf in den Medien lesen. Das 71 Seiten starke Papier hat es in sich; es ist auf Englisch zwar in einer mit vielen Fachausdrücken und Akronymen gespickten Sprache verfasst (die tschechische Version wird gegen Ende Juni aus Brüssel ankommen und erst ab dann läuft die Frist zur Stellungnahme), doch die wesentlichen Feststellungen sind erfreulich eindeutig und für den Premierminister schmerzlich.

Bis Februar 2017 war Babiš als Finanzminister zugleich alleiniger Inhaber seines in viele (darunter auch einige in Deutschland ansässige) Tochtergesellschaften gegliederten Konzerns Agrofert und dementsprechend letzte Instanz für alle wichtigen Entscheidungen. Um dem Vorwurf des Interessenkonflikts zu entgehen, überführte er Anfang Februar 2017 seinen Konzern in zwei Treuhandgesellschaften, zumal zur gleichen Zeit vom Parlament eine Verschärfung des für die Beurteilung von Interessenkonflikten maßgeblichen Gesetzes beschlossen wurde.

Interessenkonflikt? Für Babiš „völliger Unsinn“ | © Vláda ČR

Der Prüfbericht der Kommission legt nun in seinem Entwurf minutiös dar, dass die von Babiš gewählte Ausgestaltung der beiden Treuhandfonds Interessenkonflikte nicht nur nicht ausschließt, sondern geradezu konstituiert. Denn „Herr Babiš hat die Zweckbestimmung der Fonds definiert (insbesondere den Schutz seiner Interessen), hat ihn gegründet und alle ihre Akteure ernannt, die er auch entlassen kann“. Daraus könne geschlossen werden, „dass er einen direkten sowie einen indirekten entscheidenden Einfluss auf diese Treuhandfonds ausübt“ und dass „Herr Babiš durch diese Treuhandfonds indirekt die Muttergesellschaft der Agrofert-Gruppe kontrolliert.“ Ferner ist Babiš der Empfänger aller Gewinne aus dem Vermögen der Treuhandfonds, das bei Auflösung der Fonds wieder an Babiš zurückfällt. Damit liegt auf der Hand, dass Babiš weiterhin ein eminentes Interesse am wirtschaftlichen Wohlergehen von Agrofert hat; andererseits kann er als Regierungschef die dafür relevanten Rahmenbedingungen und Entscheidungen in seinem Sinne beeinflussen.

Damit kommt die Kommission zur Auffassung, dass Babiš unter die schärferen Bestimmungen der tschechischen Gesetzgebung über Interessenkonflikte fällt und im Ergebnis „alle Unterstützungen, die seit dem 9. Februar 2017 an die Agrofert-Gruppe vergeben wurden, nicht mit dem nationalen Gesetz über Interessenkonflikte vereinbar sind“. Darüber hinaus legt der Entwurf des Prüfberichts dar, wie Babiš auf die Organe, die in Tschechien für die grundlegenden Entscheidungen im Zusammenhang mit der Allokation und Verwendung der Gelder aus EU-Fonds zuständig sind, Einfluss im Sinne seiner „persönlichen und/oder wirtschaftlichen Interessen“ ausübe. Unter dem Strich droht Tschechien, rund 450 Millionen Kronen (etwa 17,5 Millionen Euro) an die Kommission zu verlieren oder zurückzahlen zu müssen.

Allerdings muss das noch nicht das Ende der Fahnenstange sein. Der vorliegende Prüfbericht behandelt nämlich nicht die Brüsseler Fördergelder für die Landwirtschaft (zu diesem Bereich, der Anfang 2019 ebenfalls von der Brüsseler Prüfmission in Tschechien unter die Lupe genommen wurde, soll bald ein separater Bericht vorgelegt werden). Da die Tätigkeit von Agrofert hauptsächlich auf Landwirtschaft und Agroindustrie ausgerichtet ist und Agrofert hierzulande der bedeutendste Empfänger von Agrarsubventionen ist, darf man gespannt sein, mit welchen Ergebnissen dieser weitere Prüfbericht aufwartet.

Babiš wirkt zunehmend nervöser, sein Vokabular in Parlament und Öffentlichkeit grobschlächtiger.

Noch bevor am Abend des 4. Juni die Demonstranten auf den Wenzelsplatz strömten, musste sich Babiš am Nachmittag im Parlament einer kurzfristig angesetzten Debatte zu dem Berichtsentwurf stellen. Wie zu erwarten, stritt er jeglichen Interessenkonflikt ab. Er habe sich penibel an die tschechischen und europäischen Vorschriften gehalten. Und er nahm mit schwerem Geschütz die Kommission ins Visier: „Ich betrachte den Audit als Angriff auf die Tschechische Republik und auf ihre Interessen.“ Es handle sich um den Versuch einer Destabilisierung des Landes. Brüsseler Beamte hätten sich erdreistet, die tschechischen Gesetze auszulegen! Das ganze Gerede über seinen angeblichen Interessenkonflikt sei nichts als eine „Lüge“.

In die Enge getrieben, scheint Babiš jedes Mittel recht zu sein, um seine Haut zu retten. Aber ob er sich mit dem Griff tief in die Kiste der nationalistisch-populistischen Polemik gegen „die in Brüssel“ aus seiner Verstrickung von Geschäft und Politik herauswinden kann? Zweifel sind angebracht. Schon in der Kampagne zu den Europawahlen waren seine Reden gespickt mit europaskeptischen Zwischentönen. Es gelte Tschechien vor „Brüssel“ zu schützen; die nationalen Regierungen müssten anstelle der Kommission bei der Verteilung und Verwendung der Gelder aus den europäischen Fördertöpfen das entscheidende Wort haben; ihm als Premier, und nicht etwa den ins Europaparlament zu wählenden Abgeordneten, komme bei der Verteidigung der nationalen Interessen in der EU die entscheidende Rolle zu.

Babiš beim Tag der offenen Tür in der Kramář-Villa (April 2018) | © Vláda ČR

Trotz aller holzschnittartigen Polemik blieb das Wahlergebnis für Babiš und seine Bewegung ANO – obwohl immer noch an der Spitze – hinter den Erwartungen deutlich zurück. Als er sich in der Wahlnacht mit den gewählten ANO-Abgeordneten der Presse stellte, glaubte man eher, einer Trauerfeier beizuwohnen. Die seit langem unangefochtene Führungsposition in der politischen Arena beginnt zu bröckeln. Ob es schon die ersten Anzeichen einer Götterdämmerung sind oder nur ein vorübergehendes Schwächeln, bleibt abzuwarten. Babiš jedenfalls wirkt zunehmend nervöser, sein Vokabular in Parlament und Öffentlichkeit grobschlächtiger.

Auf die Ankündigung des Obersten Staatsanwalts Tschechiens, dass seine Behörde den Kommissionsbericht wegen des Verdachts von Straftaten einer eigenen Prüfung unterziehen werde, reagierte Babiš mit „Unverständnis“. Sein gestriger Auftritt im Parlament hat aber auch demonstriert, dass er willens ist zu kämpfen. Zu viel steht für ihn und seine Familie auf dem Spiel. Dass auch das Ansehen des Landes mit in den Strudel gerissen werden kann, scheint Babiš indes nicht zu berühren. Es ist fraglich, ob er diese Gefahr überhaupt wahrnimmt.

Einstweilen spürt die Initiative „Eine Million Augenblicke für die Demokratie“ weiteren Aufschwung. Die jüngste Demonstration habe mehr als doppelt so viele Menschen auf die Beine gebracht als noch vor zwei Wochen. Damit ist selbst der Wenzelsplatz zu klein geworden, um den für die nächste Großveranstaltung am 23. Juni erwarteten weiteren starken Zulauf zu fassen. Neuer Versammlungsort wird daher das Plateau auf dem Letná-Hügel sein, eine seit jeher für allerlei Großveranstaltungen genutzte Fläche (etwa Umzüge zum 1. Mai, Militärparaden, Gottesdienst mit Papst Johannes Paul II., Manifestationen der Samtenen Revolution).

Warum nimmt sich eigentlich die tschechische Politik und Justiz der Probleme nicht selbst ernsthaft an?

Doch viele fragen sich: Welchen Erfolg können diese Demonstrationen haben? Werden sich die Massen nicht irgendwann im Sommer verlaufen, wenn Babiš erwartungsgemäß (und mit Präsident Zemans Unterstützung sowie derjenigen seiner sozialdemokratischen Koalitionspartner und der Kommunisten als stille Teilhaber der Macht) stur bleibt und die Menschen in die Sommerferien streben? Und überhaupt: Hat nicht die Kommission in Brüssel angesichts der schwierigen neuen Mehrheitsverhältnisse wichtigere Dinge zu tun, als den Prüfbericht nach dem langwierigen Prozess der tschechischen Stellungnahme fertigzustellen und sich möglicherweise ein weiteres längerfristiges Problem mit den widerspenstigen Mitgliedsländern in Mitteleuropa zu schaffen?

Man könnte aber auch fragen: Was eigentlich hindert die tschechische Politik und Justiz daran, sich der nun offen angesprochenen Probleme selbst ernsthaft anzunehmen? Ist der Regierungsapparat wirklich dazu da, den offenbaren und demokratieschädigenden Interessenkonflikt eines einzelnen Politikers Brüssel gegenüber vom Tisch zu wischen? Ist dies das Interesse des Landes? Ja, für viele wird es willkommen sein, wenn das endgültige Verdikt aus Brüssel kommt. Dann kann man sich, wie schon so oft in der Geschichte, in der Opferrolle einrichten, auf „die in Brüssel“ zeigen, die das Land durch „Diktate“ an den Pranger stellen und demütigen. Die entsprechende Melodie hat Babiš in seinen Einlassungen im Parlament schon angestimmt.

Einen wichtigen Erfolg können die Demonstrationen jedoch schon für sich verbuchen: In der gegenwärtigen Atmosphäre wird es nicht möglich sein, die bevorstehende Anklageerhebung in der Causa „Storchennest“ durch Einflussnahme auf die Akteure in der Justiz zu hintertreiben – sollte das denn je hinter der überfallartigen Ernennung von Benešová gestanden haben. Der Schritt des Obersten Staatsanwalts, sich der Hinweise auf mögliche Straftaten im Prüfbericht der Kommission anzunehmen, ist das erste klare Indiz dafür, dass die eventuell beabsichtigte Einschüchterung ausgeblieben ist.

Kommentare

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  1. Sehr guter Artikel von Herrn Füllenbach. Er ist seit langem für mich – neben Hans-Jörg Schmidt – die wichtigste deutschsprachige Stimme tschechischer Medien, wenn es um innenpolitische Themen geht und seit in den wenigen anderen deutschsprachigen Medien eine gewisse Zurückhaltung – man könnte auch mutmaßen „Selbstzensur“ – zwischen den Zeilen erkennbar ist.
    Ich hoffe die Proteste helfen die junge Demokratie in Tschechien zu erhalten und nicht die Gewaltenteilung nicht zu untergraben. Es gibt bereits in anderen östlichen Ländern genug Beispiele, wie durch „Reformen“ Machterhalt gesichert und Korruption verschleiert werden soll.

    Danke Herr Füllenbach





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