Als Breschnews Miene sich versteinerte

Als Breschnews Miene sich versteinerte

Vor 50 Jahren forderte Ota Šik auf dem XIII. Parteitag der KSČ wirtschaftliche und politische Reformen

31. 5. 2016 - Text: Josef FüllenbachText: Josef Füllenbach; Foto: ČTK/Jiří Rublič

Vor gut zwei Jahren schrieb Ex-Präsident Václav Klaus in einem Brief an einen Studenten der Universität St. Gallen, Ota Šik sei heute ein „totes Thema“, und „es ist schade, sich damit zu befassen“. Dennoch gibt es Gründe, sich gelegentlich an den einst weltweit bekannten Wirtschaftsreformer des „Prager Frühlings“ und nachmaligen Lehrer an der Hochschule St. Gallen zu erinnern. Zum Beispiel heute, 50 Jahre nach dem XIII. Parteitag der Tschechoslowakischen Kommunistischen Partei (KSČ), dem letzten Parteitag vor dem „Prager Frühling“ von 1968.

Die knapp 1.500 Delegierten tagten vom 31. Mai bis 4. Juni 1966 in einer seltsam gespannten Atmosphäre, in der die Verfechter von Reformen im Aufbegehren gegen die ideologisch versteinerte Führungsriege bereits leise hörbar mit den Füßen scharrten. Wie bei diesen Anlässen üblich war auch hoher Besuch aus Moskau gekommen: zum ersten Mal der knapp zwei Jahre zuvor zum Parteichef aufgestiegene Leonid Breschnew. Der Machtwechsel in Moskau hatte die Reformaussichten verdüstert, aber konnte man die Uhr wieder zurückstellen, die schon 1965 eingeleiteten vorsichtigen Reparaturen am schwerfälligen Planungsmechanismus stoppen?

Ota Šik war damals Direktor des Wirtschaftsinstituts an der Akademie der Wissenschaften (ČSAV), in dem die progressivsten Ökonomen arbeiteten. Gleichzeitig war er Leiter einer Taskforce, die für die Parteiführung Vorschläge zur Reform der Wirtschaft entwickelte. Auf Šik und seine Leute, die die Einführung von Marktmechanismen in das starre Planungssystem propagierten, richteten sich die Hoffnungen vieler jüngerer Delegierter, die den niederen Etagen der Hierarchie angehörten und den zunehmenden Klagen aus der Bevölkerung über die Mangelwirtschaft direkter ausgesetzt waren als die abgehobene Funktionärselite in Prag.

Šik hatte sich gleich zu Beginn des Parteitags für die Rednerliste angemeldet, doch die Versammlungsleitung erteilte ihm weder am ersten noch an den folgenden Tagen das Wort. Noch hielten die Beharrungskräfte mit dem seit 1953 als Parteichef und seit 1957 auch als Staatspräsident amtierenden Antonín Novotný das Zepter fest in der Hand. In den Pausen sprach man beim Kaffee auf den Fluren mehr über die Frage, ob Šik noch auf die Rednertribüne gerufen werde, als über die von Novotný ausgegebenen Losungen. Am 4. Juni endlich gab man Šik als letztem Redner das Wort. Vielleicht geschah das in der Hoffnung, dass die meisten Delegierten schon ermüdet sein mussten von den vielen langatmigen, immer wieder mit den gleichen Kaskaden realsozialistischer Wortungetüme ausgestatteten und dennoch inhaltsleeren Ansprachen des fünftägigen Tagungsmarathons. Und der wachsende Druck vor allem der Delegierten aus den Untergliederungen der Partei auf Kreisebene tat ein Übriges, dem Wirtschaftsprofessor den Gang ans Mikrofon zu ebnen.

Šiks Vortrag war lang; er nahm am nächsten Tag im Parteiblatt „Rudé právo“, das wie immer jede Rede Wort für Wort dokumentierte und so fünf Tage lang viele ungelesene Bleiwüsten produzierte, etwa zwei Drittel einer der großen engbedruckten Seiten ein. Man darf davon ausgehen, dass diese Seite vier am folgenden Tag der bei weitem meistgelesene Text der Parteizeitung war und dass sich das Blatt eines ähnlichen Interesses erst wieder im aufwühlenden Reformfrühling des Jahres 1968 erfreuen konnte. Ota Šik war bekannt; das unwürdige Spiel mit der Rednerliste hatte die Neugier nur noch angefacht und Spekulationen genährt, was sich hinter den Kulissen abspielen könnte. Und die Leute verstanden es, zwischen den Zeilen zu lesen und die Botschaften zu entziffern, die auch ein Ota Šik noch in das Gerümpel alter ideologischer Floskeln einpacken musste.

Nachdem er seine Gedanken zur Notwendigkeit von Wirtschaftsreformen ausführlich dargelegt hatte, endete er mit einem Appell, ergänzend dazu auch die Demokratisierung der Gesellschaft anzugehen. Nur dann könne die Partei ihre führende Rolle auf Dauer behaupten, wenn sie bereit sei, sich von alten Dogmen zu verabschieden. Der stehende Applaus unten im Saal war überwältigend, und „oben saß das Präsidium, darin eingerahmt Novotný und Breschnew mit versteinerten Mienen“, wie sich Šik später erinnerte. Das war für einen Parteitag ein allzu forscher Hinweis darauf, dass die notwendigen Reformen ohne ein Aufbrechen der verkrusteten politischen Strukturen nicht möglich seien. Wie wir heute wissen, sollte er damit recht behalten.

Šik und Novotný waren offensichtlich zu Gegnern geworden, wenn nicht gar zu Feinden, denn hier war die Machtfrage angesprochen. Die darf jedoch nach leninistischem Lehrbuch nur der Mächtige stellen oder der, der stark genug ist, die Macht zu ergreifen, wie zum Beispiel zwei Jahre zuvor Breschnew. So weit waren die Dinge freilich in Prag nicht gereift. Dabei standen Šik und Novotný nur wenige Jahre vorher noch in bestem Einvernehmen. Beide hatten sich nämlich während des Zweiten Weltkriegs im Konzentrationslager Mauthausen kennengelernt, und der um 15 Jahre jüngere Ota Šik hatte seinem älteren Leidens­gefährten geholfen zu überleben.

Diese Vorgeschichte konnte sich Šik zunutze machen, als ihm Anfang 1963 der Chefredakteur von „Rudé právo“ verwehrte, im Parteiorgan einen Beitrag über die Einführung von „Ware-Geld-Beziehungen“ (so damals noch die hölzerne Umschreibung für das Tabuwort Markt) in die sozialistische Planwirtschaft zu veröffentlichen. Šik konnte sich mit seiner Beschwerde gegen die Zensur unmittelbar an den Partei­chef und Präsidenten Novotný wenden. Dieses Gespräch nutzte er auch dazu, Novotný mit den Grundzügen seiner Reformideen bekannt zu machen, musste aber an dessen „gläsernem Blick“ feststellen, dass ihm sein Gegenüber nicht folgen konnte und nichts von dem verstand, was er da aus der Küche seines Wirtschaftsinstituts der ČSAV an neuen Erkenntnissen vortrug.

Doch eines begriff er sehr gut: Dieser Gefährte aus schweren Zeiten konnte ihm, der Partei und dem Land – in dieser Reihenfolge – vielleicht aus den Bedrängnissen helfen, die sich nach dem vorzeitigen Scheitern des dritten Fünfjahresplans (1961–1965) eingestellt hatten. Jeder wusste, dass etwas geschehen musste, aber die Ratlosigkeit der Führung war mit Händen zu greifen. Während die Technokraten der ausufernden Planbürokratie darüber debattierten, wie man die Plankennziffern verbessern könnte und sich damit, gefangen im bisherigen unzulänglichen Paradigma, im Kreise bewegten, ging Šik mit seinem Institut einen anderen Weg: Marktmechanismen sollten in das bisherige System eingebaut werden, Angebot und Nachfrage zu ihrem Recht kommen. Novotný erkannte für sich die Chance auf einen Ausweg aus dem Dilemma und in Šik (noch) keinen Rivalen, der ihm gefährlich werden konnte. Deshalb richtete er eine Taskforce ein und beauftragte Šik mit deren Leitung. Ziel war die Ausarbeitung eines neuen Reformplans.

Da die Umsetzung der dann 1965 beschlossenen ersten Reformschritte ins Stocken geraten war, nannte Šik in seiner Rede am 4. Juni 1966 die Probleme beim Namen: Die Lähmung der Eigen­initiative durch Lohn­nivellierung, die Verschwendung von Ressourcen durch verzerrte Preise, den „Irrglauben, dass bloße Propaganda Wandel herbeiführt“, die dogmatische Abwehr neuer Ideen. Doch noch drang er nicht gegen die Führung, die um ihre Macht zu fürchten begann, und gegen den schwerfällig-bürokratischen Apparat, der sich an seine Routinen klammerte, durch. Vor allem lag die über 1.000 Technokraten zählende Staatliche Plankommission wie ein Granitblock den Reformen im Wege.

Es sollte noch eineinhalb Jahre dauern, bis der Kessel dem Druck nicht mehr standhielt und Šik unter der neuen Führung Dubčeks die Chance erhielt, sein Reformprogramm zu realisieren. In der Wirklichkeit bewähren konnten sich Šiks Konzeptionen nicht. Breschnews Panzer setzten dem „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“ ein gewaltsames Ende. Šik emigrierte in die Schweiz und propagierte noch viele Jahre seine „Versöhnung von Plan und Markt“, den „dritten Weg“ zwischen Kapitalismus und Sozialismus. Darüber hat sich inzwischen Staub gelegt, aber angesichts der Auswüchse globaler Finanzmärkte, zunehmender Ungleichheit in und zwischen den Ländern und der Bildung von Peripherien der Armut wächst das Bewusstsein, dass ein Gedanke von Šik auch heute noch relevant ist: Märkte sind wichtig, müssen sich aber in einem von der Gesellschaft legitimierten und vom Staat gesetzten Rahmen bewegen.