Kurz vor dem Kollaps

Kurz vor dem Kollaps

Das Land braucht dringend Arbeitskräfte – doch woher sollen sie kommen?

27. 4. 2016 - Text: Corinna AntonText: ca/čtk; Foto: APZ

Die tschechische Industrie steht vor dem Zusammenbruch. Wer die hiesige Wirtschaft zuletzt beobachtet hat, mag der Vereinigung der Exporteure (AE) diese drastischen Worte kaum glauben. Hat man doch seit einigen Monaten vor allem Erfolgsmeldungen gehört – das Brutto­inlandsprodukt wuchs, die Arbeitslosigkeit sank, die Krise war überwunden. Und dass einige Firmen schon Probleme hatten, freie Stellen zu besetzen, konnte man auch als Beweis dafür werten, wie gut es dem Land geht und wie stark sich die Wirtschaft entwickelt hat.

Nun aber schlagen zwei große Verbände Alarm. Laut AE mangelt es der Industrie an mindestens 70.000 Arbeitern und Tausenden Hochschulabsolventen der Fächer Maschinenbau, Elektro­technik, Chemie und Textil­wesen. „Die Situation ist aus dem Ruder gelaufen. Es droht ein Kollaps der Industrie, der unserer Wirtschaft nachhaltig schaden kann“, so der stellvertretende AE-Chef Otto Daněk. Der Vorsitzende des Industrie- und Verkehrs­verbandes Jaroslav Hanák sagte kürzlich, es fehlten 100.000 gut ausgebildete Arbeitskräfte in der Industrie. Manche Firmen müssten deswegen schon Aufträge ablehnen.

Wie man den Kollaps abwenden könnte, wissen die Unternehmerverbände auch – aber ihre Idee dürfte nicht jedem gefallen. Die einzige Lösung seien Arbeitskräfte aus nicht-euro­päischen Ländern, glauben Vertreter der AE. In einem Brief an die Regierung fordern sie, die Aufenthalts- und Arbeitsbedingungen für potenzielle Angestellte aus Ländern wie der Ukraine, Vietnam, Weißrussland und Russland zu verbessern. Ähnlich äußerte sich Hanák: Es sei ein grober Fehler, dass Gewerkschaftler den Zuzug ausländischer Arbeitskräfte ablehnen.

Die größten Schwierigkeiten bei der Personalsuche haben derzeit kleine und mittlere Unternehmen. Daněk zufolge kommt es häufig vor, dass große internationale Firmen ihnen Mitarbeiter mit unlauteren Methoden abwerben. Bisher fühlen sie sich mit dem Problem ziemlich alleingelassen – und versuchen sich selbst zu helfen. „Wenn wir Polsterer suchen, nehmen wir gelernte Köche, die wir umschulen – so machen wir aus ihnen selbst Experten für unsere Branche“, erklärte diese Woche ein mittelständischer Möbelhersteller gegenüber der Tageszeitung „Hospodářské noviny“.

Bereits jetzt beschäftigen etwa zwei Drittel der Firmen, die von der AE kürzlich befragt wurden, Angestellte aus dem Ausland. Sie kommen vor allem aus Polen, der Ukraine, der Slowakei, Russland und Bulgarien. Rund vier Fünftel der Betriebe sprachen sich dafür aus, Visaverfahren für ausgewählte Ausländer zu vereinfachen.

Die Arbeitslosenquote lag in Tschechien im März bei 6,1 Prozent, in manchen Industrie­regionen aber deutlich darunter – etwa im Bezirk Prag-Ost, wo nur 2,5 Prozent ohne Beschäftigung waren.