Abgründe und Höhenluft

Abgründe und Höhenluft

Eine Reise durch die Kreise – Teil 2: Vysočina

27. 7. 2016 - Text: Corinna AntonText und Fotos: Corinna Anton

Prag kennen alle, Brünn viele und Ostrava noch einige – aber wer war schon mal in Mimoň oder in Hořovice? Und wie lebt es sich eigentlich fern der Hauptstadt? Rümpft man dort wirklich die Nase über das Prager Kaffeehausgeschwätz und glaubt alles, was Präsident Zeman sagt? Die PZ unternimmt eine Reise durch die Kreise – und erkundet im zweiten Teil von Jihlava aus die Vysočina.


Im Bus mit der Nummer 840106 kann man Miloš Zeman ein bisschen verstehen. Rechts wachsen Mohnblumen, Mais und Klee, links Kartoffeln und Getreide. Am liebsten möchte man aussteigen und mit der Hand über den Weizen streichen, der in der Vormittags­sonne golden glänzt. Der Bus rollt gemütlich weiter, ein Dorfteich glitzert, darauf schwimmt eine Entenfamilie und dahinter schaut ein Kirchturm hervor. Auf der anderen Seite: Wälder und sanfte Hügel bis zum Horizont. Es ist wirklich schön hier in der Vysočina, auf dem Weg nach Nové Veselí um genau zu sein – dort, wo Zeman seit 25 Jahren seinen Urlaub verbringt.

Den Ort erreicht der Bus planmäßig um 11.01 Uhr. Von Prag führt die Reise über Jihlava, Hauptstadt des Kreises und zentraler Verkehrsknotenpunkt. Wer zum Beispiel die Unesco-Städte Telč oder Třebíč im Süden der Vysočina besuchen möchte, kommt wahrscheinlich auch durch Jihlava. Aber rechtfertigt das einen Busbahnhof mit 32 Haltestellen, noch mehr als am Zentralen Busbahnhof Florenc in Prag? An einem Montag­vormittag im Juli sieht es nicht danach aus. Eine Handvoll Fahrer macht gerade Pause, leere Busse stehen herum und wenn einer abfährt, steigen nur ein paar Passagiere zu. Darüber hat sich offenbar auch die sozial­demokratische Regierung des Kreises Gedanken gemacht. Sie will ein neues Nahverkehrs­system einführen, damit Reisen mit Zug und Bus bequemer wird – allerdings erst 2019. Derzeit hat der Kreis Verträge mit 21 Bus- und zwei Bahnunternehmen. Um deren Verluste auszugleichen, gibt er umgerechnet etwa 22 Millionen Euro im Jahr aus.

Für den Fahrgast ist es dafür recht günstig, von Jihlava nach Nové Veselí zu kommen. Gut 30 Kilometer kosten 46 Kronen. Das erste Ziel ist die Ortsmitte – einfach zu finden mit Kirche, Kneipe und einer Art Marktplatz. Die Gaststätte heißt „Beim Präsidenten“. Am Terrassen­geländer hängt ein Wahlplakat, von dem der Rechtspopulist Tomio Okamura und der Senator Jan Veleba grüßen. „Dieses Land gehört uns“, ist darauf zu lesen und „Illegale Immigration stoppen“. Lust auf ein Bier?

Rechtspopulistische Wahlplakate schmücken die Kneipe „Beim Präsidenten“.

„Wir kleinen Leute“
Die Kneipe sei geschlossen, sagt ein 39-Jähriger, der auf den ersten Blick aussieht, als sei er hier der Wirt. Es habe sich niemand gefunden, der sie betreiben wolle, kein Personal, erklärt er auf Tschechisch mit russischem Akzent und bittet in seinen Laden. Er verkauft Modellflugzeuge, -panzer und -eisenbahnen, aber Kundschaft im Ort hat er kaum. „Sie sind aus Deutschland? Dann sind Sie hier wahrscheinlich genauso beliebt wie ich. Die Leute sind schwierig. Wenn ich nicht nach Russland exportieren würde, könnte ich mein Geschäft nicht halten.“ Von der Regierung halte er nicht viel, meint er, aber der Präsident, der hier Urlaub mache, der sage wenigstens, was er denke – „im Gegensatz zu eurer Kanzlerin“. Dann folgt noch etwas Rassistisches, was nicht so genau zu verstehen ist. Er frage sich, wie es weitergehe mit Europa. Wenn man sich nun an Terror­anschläge gewöhnen müsse, weshalb zahle man denn überhaupt Steuern? „Aber wir kleinen Leute“, seufzt er, „wir können ja nichts machen“.

Deprimierende Worte – vielleicht findet man Trost beim ersten tschechoslowakischen Präsidenten Tomáš Garrigue Masaryk, der ein paar Meter weiter steinern auf den Platz blickt. „Die Wahrheit siegt“, steht unter der Statue. „Das Leben hier ist sehr angenehm“, sagt Iveta, die mit ihrem zweijährigen Sohn spazieren geht. Gerade ist die Familie in ein neues Haus gezogen. „Es gibt Firmen und Geschäfte, Kneipen, Kinderspielplätze – und alles ist hübsch hergerichtet.“ Bevor sie weitergeht, erklärt sie noch den Weg zum Fischteich, auf dem Zeman gern mit seinem Schlauchboot in See sticht. „Früher haben wir ihn oft gesehen, aber seit er Präsident ist, bekommen wir nur noch die Bodyguards zu Gesicht.“

Ein Teil des „Schlösschens“ in Nové Veselí gehört Zeman seit 1989.

Unesco-Pilger in Žďár
Den Anblick des paddelnden Präsidenten möchte man dem Leser lieber ersparen. Auch seriöse Zeitungen haben solche Bilder Anfang Juli abgedruckt. Auf einem sind vier Männer zu sehen, die Zeman ins gelbe Gummiboot heben, auf einem anderen watschelt er in „schicker blauer Badehose“ (so schrieb die Tageszeitung „Lidové novniny“) zum Strand. Nun ja, ohne Präsident macht der See wohl eine bessere Figur.

Eine gute Stunde reicht, um Nové Veselí zu besichtigen. Der nächste Bus fährt bis Žďár nad Sázavou, wo die Wallfahrts­kirche des heiligen Johannes von Nepomuk auf dem Berg Zelená hora wartet. Seit 1994 steht sie auf der Unesco-Liste, weshalb Touristen aus aller Welt die Kreisstadt mit ihren rund 21.000 Einwohnern besuchen.

„Sie kommen sogar aus China, Mexiko und Israel – aber die meisten interessieren sich nur für die Sehenswürdigkeiten“, berichtet Bohuslav Nahodil. Der 69-Jährige ist in Žďár geboren und hat die Region „lange studiert“, wie er erklärt. Sein Reisebüro im Alten Rathaus hat er mit Standuhren, Grammophonen und einem Spinnrad dekoriert. Es ist zugleich Infozentrum. Geschichte, Kultur, Pilze, Klettern, … die Vysočina habe so viel zu bieten, meint er, und es kämen immer mehr Touristen.

So könne man das nicht sagen, mischt sich ein älterer Herr ins Gespräch ein. „Das kommt schon darauf an, wie man Tourismus definiert.“ Touristen, meint der 80-Jährige, seien früher Wanderer gewesen, die langsam unterwegs waren und Zeit hatten, sich die Gegend anzusehen. So beginnt eine Diskussion über den Tourismus als „Business“, wie Nahodil sagt. Die beiden Männer schwärmen von den alten Zeiten, als es kaum Autos gab. Schließlich holt Naho­dil stolz sein Gästebuch hervor. Auch „verschiedene Präsidenten“ seien hier gewesen, sagt er, Havel, Klaus, zählt er auf. Und Zeman? „Noch nicht.“

Der Weg zum Berg Zelená hora führt durch ein Wohngebiet. Die berühmte Wallfahrtskirche ist schon zu sehen.

Trotz Schloss und Wallfahrts­kirche: Eine typische Touristen­stadt ist Žďár nad Sázavou nicht. Die Stadt lebe „eher von den Firmen und Fabriken als von den Besuchern“, hatte Nahodil gemeint. Auf dem Weg vom Bahnhof bis Zelená hora merkt man ihr das auch ein wenig an. Die „Steakbar L.A.“ in einem grauen Kastenbau sieht zum Beispiel nicht gerade einladend aus. Und die barocke Pestsäule wirkt ein wenig verloren gegenüber den schnörkellosen Kaufhäusern am Platz der Republik. Ein Blick vom Hügel der Wallfahrtskirche auf Plattenbauten und Fabrikschornsteine auf der einen Seite und auf der Weide grasende Kühe auf der anderen – dann wird es Zeit für den nächsten Ortswechsel.

Brusthaar und Bierbauch
Havlíčkův Brod bereitet dem Besucher an diesem Tag keinen besonders schmeichelhaften Empfang. Die ersten Gesprächspartner sind zwei Männer mittleren Alters, die die Bahnhofstoilette betreiben. Das Fenster, durch das sie kassieren, gibt den Blick nur auf Brusthaar und Bierbauch frei, ihr Gesicht sieht man nicht. Sieben Kronen verlangen sie; wer nur Hände waschen will, zahlt fünf. Zwei Zettel mahnen mit strengen Worten, dass das Toilettenpapier nicht zum Abtrocknen der Hände verwendet werden darf. Vor dem Bahnhof weist ein Schild darauf hin, dass die Stadt mit Videokameras überwacht wird. Und der Weg zum Zentrum, den ein Einheimischer zugegeben sehr freundlich erklärt hat, führt an einer lauten Straße entlang.

Doch der Weg zum Havlíček-Platz lohnt sich. Seit der Vertreibung der Deutschen 1945 trägt die Stadt (bis dahin Německý Brod oder Deutschbrod) den Namen des Dichters, Journalisten und Politikers Karel Havlíček Borovský. Und auch der zentrale Platz wurde nach ihm benannt. Dort glänzen die renovierten historischen Fassaden in der Sonne; es wimmelt nur so vor Leben, das in den vielen Dörfern des Kreises manchmal ein wenig fehlt. Eltern kaufen ihren Kindern Eis und Pizza, die Menschen sitzen auf Bänken, tragen volle Tüten nach Hause, trinken Kaffee und Wein oder warten auf den Bus. Noch schöner wäre der Platz ohne die stark befahrene Straße. Aber wahrscheinlich wäre in den Restaurants und Geschäften dann auch nicht so viel los.

Ohne Autos wäre der Havlíček-Platz in Havlíčkův Brod noch ein bisschen schöner, aber dafür wohl auch nicht so lebendig.

Nach einer Portion Aprikosen aus der Region könnte man, versöhnt mit Havlíčkův Brod, in den Direktzug nach Prag steigen. Aber auf dem Weg liegt noch Světlá nad Sázavou. Wörtlich übersetzt hieße der Ort „hell ob der Sázava“. Bekannt ist er für unterirdische Gänge, die wahrscheinlich aus dem 15. Jahrhundert stammen, und für das Schloss, das der Öffentlichkeit erst seit 2014 zugänglich ist. Die Stadt bezeichnet es sogar als „künftige kulturelle Perle der Tschechischen Republik“. Medien berichteten aus Světlá zuletzt, dass hier 200 verurteilte Frauen arbeiten. Beschäftigt sind sie in einer Halle des Unternehmens Lion Products in der Nähe des Gefängnisses. Dort verpacken sie Schokolade und andere Süßigkeiten, die in alle Welt exportiert werden.

Erinnerung im Rathaus
Gäste aus aller Welt besuchen Světlá dagegen eher selten – im Vergleich zu den Unesco-Städten im Süden des Kreises. Im Juni sind allerdings einige aus den USA angereist. Sie kamen zur Enthüllung einer Gedenktafel im Rathaus, die an 56 Opfer des Holocaust erinnert. In Světlá wohnten zu Beginn des 20. Jahrhunderts mehr als 100 Juden – darunter auch die damaligen Besitzer des Schlosses, Familie Morawetz. Im Juni 1942 schickten die Nationalsozialisten 69 Juden aus der Stadt und der Umgebung in Konzentrations­lager, die meisten ermordeten sie dort. Die jüdische Gemeinde in Světlá wurde bis heute nicht wieder aufgebaut.

Die Tore des Schlosses sind schon zu und auch sonst ist nicht mehr viel los in der Stadt, bevor kurz nach acht der letzte Zug nach Prag fährt. Ein Mann spaziert mit einer Kamera am Ufer der Sázava entlang, etwas unzufrieden beobachtet er die Enten und die Wolken, die sich vor die Abendsonne geschoben haben. „Es ist nicht sehr hell hier in Světlá“, sagt er dann, lächelt, grüßt und geht weiter.

Zwischen Rathaus und Schloss fließt in Světlá die Sázava.


Kraj Vysočina
Fläche: 6.796 Quadratkilometer (Rang 5 von 14 Kreisen)
Einwohner: 509.475 (31.12.2015)
Kreisstadt: Jihlava (Iglau), etwa 50.000 Einwohner
Höchster Punkt: Javořice (Jaborschützberg), 837 Meter über dem Meeresspiegel
Längste Flüsse: Jihlava (Igel), Sázava (Sasau), Oslava (Oslau)
Besonderheiten: Der Kreis Vysočina (deutsch auch „Hochland“) umfasst böhmisches und mährisches Gebiet. Beide etwa gleich großen Teile trennt die europäische Hauptwasserscheide.