Aus dem Schatten Tugendhats

Aus dem Schatten Tugendhats

Die Villa Löw-Beer in Brünn ist eine besondere Mischung aus Jugendstil und Funktionalismus. Nach mehrjährigen Sanierungsarbeiten steht sie Besuchern seit kurzem offen

24. 2. 2016 - Text: Stefan Welzel, Titelfoto: tugendhat.eu

Ende des 19. Jahrhunderts begann sich das Erscheinungsbild Brünns radikal zu verändern. Aus einer im Zentrum mittelalterlich-ständisch und im Umland stark industriell geprägten Stadt wurde schrittweise eine Vertreterin des großbürgerlichen Repräsentanzstils. Vor allem was Bauwerke aus der Epoche der Ersten Tschechoslowakischen Republik anbelangt, steht die heute zweitgrößte Stadt des Landes Prag kaum in etwas nach. Berühmtestes Zeugnis dieser Zeit ist die Villa Tugendhat, die Teil des Unesco-Weltkultur­erbes ist.

In deren Schatten standen bisher nicht minder spannende Gebäude wie die Villa Stiassni und das Jurkovič-Haus, die dem interessierten Publikum in den vergangenen vier Jahren zugänglich gemacht wurden. Der Sitz der jüdisch-deutschen Industriellenfamilie Löw-Beer feierte im Januar als letzte dieser Institutionen Eröffnung.

Blick in den funktionalistischen Innenraum mit Holztreppe, Balustrade und modernem Gaskamin

Wenn man vom Stadtkern Brünns in Richtung Norden unterwegs ist, fallen rund um den Mährischen Platz die großzügig angelegten Straßen und diverse Prestigebauten wie der klassizistische Sitz des Verfassungsgerichts oder das erst in den 1960er Jahren entstandene Janáček-Theater auf. Hier wurde um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert ein ganz neuer Stadtteil – zuweilen auf dem Reißbrett – entworfen und aus dem Boden gestampft.

Soziales Scharnier
Einige hundert Meter weiter wird es lieblicher. Der Augarten (heute der vielseitig genutzte Lužánky-Park) bot Adligen und reichem Bürgertum einst die Möglichkeit der stadtnahen Erholung. Gleich daneben erstreckte sich die Parkstraße. Rund um diese leicht gebogene, heute Drobného genannte Verbindung ins Wohnviertel Černá Pole (Schwarzfeld) siedelte sich das neureiche Bürgertum an. Eine ganze Reihe verschnörkelter Jugendstilhäuser legt eindrucksvoll Zeugnis davon ab. Der neue Stadtteil war eine Art Scharnier zwischen der meist ärmeren tschechischen Bevölkerung, die am Stadtrand lebte, und der alten, oft wohlhabenderen und überwiegend deutschen im Zentrum.

Alfred Löw-Beer kam als einer von drei Vorsitzenden (neben seinen Brüdern Benno und Rudolf) des Familienunternehmens aus der rund 40 Kilometer nördlich gelegenen Kleinstadt Svitávka nach Brünn. Das Unternehmen Moses Löw-Beer, benannt nach dem Großvater und Firmengründer, entwickelte sich Mitte des 19. Jahrhunderts rasant zu einem der bedeutendsten Tuch- und Zuckerfabrikanten im deutschsprachigen Raum. Produktionsstätten standen nicht nur in Böhmen, sondern auch in Ungarn und Preußen. Die Provinzstadt Svitávka bot zu Beginn des 20. Jahrhunderts schon lange nicht mehr den passenden repräsentativen Rahmen sowie die wichtigen gesellschaftlichen Beziehungen, die einer Familie mit dem Ansehen und dem Vermögen der Beer-Löws entsprachen. Sie beschlossen, 1913 das Haus und Anwesen von Moritz Fuhrmann an der Parkstraße 22 für 290.000 Kronen zu kaufen. Das entspräche heute rund 1,15 Millionen Euro.

Unbeschwerte Jahre
Das Jugendstilhaus mit seinen 14 Zimmern, drei Küchen, zwei Badezimmern, sechs Toiletten und dem großen rückseitigen Park diente der Familie von Alfred Löw-Beer bis zur Okkupation durch die Nationalsozialisten als Zuhause. Ende der zwanziger Jahre heiratete Tochter Grete den Textilindustriellen Fritz Tugendhat. Schwiegervater Alfred kaufte dem Paar ein Grundstück, das direkt an den hauseigenen Park angrenzte. Grete war von der Moderne fasziniert. Für sie und ihren Mann entstand nach Plänen von Ludwig Mies van der Rohe ein konsequent funktionalistisches Gebäude: die Villa Tugendhat, die heute Weltruf genießt und Teil des Unesco-Weltkulturerbes ist.  Alle Rechnungen für den Bau beglich damals Alfred Löw-Beer.

Die ehemalige Parkstraße im Brünner Norden

Es dürfte wohl Gretes Einfluss geschuldet sein, dass die Eltern ihre eigene Villa in den dreißiger Jahren im Innenbereich ebenfalls nach funktionalistischen Maßstäben umbauen ließen. Der Jugenstil-Schnörkel verschwand, klare Linien und Strukturen dominierten fortan die Einrichtung, vermutlich gestaltet vom Wiener Architekten Rudolf Baumfeld. Klare Beweise dafür gibt es nicht, „doch die Historiker sind sich zu 99,5 Prozent sicher“, wie den Besuchern bei den stündlich im Haus angebotenen Führungen erklärt wird.

Es waren unbeschwerte Jahre für die Großfamilie. Die Geschäfte liefen gut und das liberale gesellschaftliche Leben in der demokratischen Tschechoslowakei behagte den fortschrittlich orientierten Beer-Löws. Auch privat hatten sie Glück. Großvater Alfred konnte sich der Nähe seiner Enkel erfreuen, die im Winter auf Skiern von der Villa Tugendhat zu ihrem Opa zu Besuch fuhren. Mit dem Münchner Abkommen 1938 begann die Tragödie. Die meisten Familienmitglieder waren sich der Gefahr bewusst und verließen das Land, doch Alfred blieb.

Rätselhafter Tod
Nach der Errichtung des Protektorats Böhmen und Mähren im Jahr 1939 verschwand der damals 67-Jährige spurlos. Die Verwandschaft heuerte im britischen Exil den englischen Agenten Paul Dukes an. Dieser bekam nur heraus, dass Alfreds Leiche an der deutsch-tschechischen Grenze gefunden worden sei. Die Umstände seines Todes sind bis heute ungeklärt. Dukes schrieb später „An epic of the Gestapo“, einen von Spekulationen gespickten Roman über seine Suche nach Löw-Beer.
Ab 1940 diente die Villa dann als Hauptquartier der örtlichen Gestapo. Über jene Epoche gibt es relativ wenig gesicherte Informationen. „Dieser Teil der Geschichte des Hauses wie auch die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg müssen noch genauer erforscht werden“, erklärt die zuständige Kuratorin Petra Svobodová.

Zwischen 1962 und 2012 diente das Gebäude als Heim für Studenten der nahen Musikschule. Möbelstücke aus der Zeit davor sind kaum übriggeblieben. Doch einzelne, zuweilen faszinierende Elemente wie das ausgeklügelte Heizungs- und Kühlungs-, das Regenwasser-Aufbereitungssystem oder der mit Marmor verkleidete Gaskamin sind dafür noch zu bestaunen. „Das entsprach damals den höchsten technischen Ansprüchen“, erklärt Svobodová.

Bei den Renovierungsarbeiten wurde unter der dunklen Holzverkleidung des Geländers im ersten Stock die im Jugendstil verzierte Originalbalustrade entdeckt und entschieden, diese wieder sichtbar zu machen. So sind im Innenraum der Villa beide Architekturstile präsent. Doch das Haus ist nicht nur Zeitzeugnis. Eine umfangreiche Ausstellung erzählt dem Besucher die Geschichte der jüdischen Bourgeoisie Brünns, die Entwicklung der Stadt zur modernen Wirtschafts- und Verwaltungsmetropole Mährens sowie die Familiengeschichte der Löw-Beers. Detailgetreue Papier-Modelle funktionalistischer Gebäude von Stararchitekten wie Mies van der Rohe oder Ernst Wiesner, gefertigt von jungen Architekturstudenten, vervollständigen die Schau.

Mit der Villa Löw-Beer ist Brünn um eine Kulturattraktion reicher, die dem Publikum laut Svobodová „einzigartige Kon-struktions- und Bauelemente aus Jugendstil und Funktionalismus näherbringt“.


Petra Svobodová, Leiterin und Kuratorin der Villa Löw-Beer, über die neue Attraktion in Brünn

Was macht die Villa Löw-Beer einzigartig im Vergleich zu anderen Bauwerken aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts?
Petra Svobodová:
Die außergewöhnliche Gebäudestruktur sowie besondere kunsthandwerkliche und bautechnische Elemente. Dazu gehören originale Fenster, Türen, Fliesen, Holzverkleidungen, Stuckverzierungen, Balustraden und natürlich das Heizungs- und Kühlungssystem mit Schächten, die sich durch die ganze Villa ziehen. Das war damals Technik auf dem absolut neuesten Stand.

Welche Bedeutung hat die Villa Löw-Beer für das historische Erbe der Stadt?
Abgesehen von der Tatsache, dass sie als ein Denkmal des Jugendstils sowie des Funktionalismus von hohem Wert ist, faszinieren auch die Lebensgeschichten von Alfred und Marianne Löw-Beer und ihren Kindern, die sich hier abspielten. Allgemein lässt sich feststellen, dass Brünn dank der vier herausragenden Bauwerke jener Zeit wirklich einzigartig ist. Neben unserem Haus sind das die Funktionalismus-Villen Stiassni und Tugendhat sowie das Haus Jurkovič aus der Sezessions-Epoche.

Kamen bei der Renovierung der Löw-Beer-Villa auch neue architektonische Elemente hinzu?
Es wurde in erster Linie darauf geachtet, den Originalzustand wiederherzustellen. Aber natürlich mussten wir das Gebäude besucherfreundlich ausstatten. Dazu gehören unter anderem neue Elektrik, Toiletten, Beleuchtung und ein Aufzug für Gehbehinderte.

Was sind die Höhepunkte der neuen Ausstellung?
Eine Attraktion sind die vielen detailgetreuen Modelle, die die Entwicklung der Architektur vom Historismus über den Jugendstil bis zum Funktionalismus dokumentieren. Sie zeigen eindrücklich die Tektonik der verschiedenen Bauwerke. Auch die vielen zeitgenössischen Fotografien, die das Leben in Brünn im 19. und frühen 20. Jahrhundert abbilden, finde ich faszinierend.

Ihr Haus funktioniert nicht nur als Museum, sondern auch als ein Ort für kulturelle Veranstaltungen. Was erwartet Interessierte in naher Zukunft?
Wir wollen unsere Besucher davon überzeugen, dass ein Museum oder Denkmal auch eine lebendige Begegnungsstätte sein kann. Deshalb laden wir jeden Freitag Gäste aus der tschechischen Kulturszene zu Podiumsgesprächen ein. Außerdem finden im Sommer Konzerte unter freiem Himmel statt. Und für den Herbst planen wir eine Oldtimer-Parade.


Adressen & Öffnungszeiten

Villa Löw-Beer (Drobného 22), geöffnet: täglich außer montags 10 bis 18 Uhr, Eintritt: 150 CZK (ermäßigt 75 CZK), www.vilalowbeer.cz

Villa Tugendhat (Černopolní 45), geöffnet: Mi.–So. 9 bis 17 Uhr (Jan./Feb.), Di.–So. 10 bis 18 Uhr (März–Dez.), Eintritt (mit Führung): 300/350 Kronen (ermäßigt 180/210 CZK, Tagesticket Garten 50 Kronen), www.tugendhat.eu. Es wird aufgrund der hohen Nachfrage empfohlen, die Tickets mindestens zwei Monate vor dem beabsichtigten Besuchstermin zu reservieren.

Haus Jurkovič (Jana Nečase 2), geöffnet: Sa. & So. 10 bis 12 & 12.30 bis 18 Uhr (Dez.–Feb.), Do.–So. 10 bis 12 & 12.30 bis 16 Uhr (März/Nov.), Di.–So. 10 bis 12 und 12.30 bis 18 Uhr (April–Okt.), Eintritt: 100 CZK (ermäßigt 50 CZK), www.moravska-galerie.cz/jurkovicova-vila

Villa Stiassni (Hroznová 14), geöffnet: täglich 10 bis 17 Uhr (Juni–Sept.), täglich 10 bis 16 Uhr (Jan./Mai/Okt./Dez.), Eintritt: 190 CZK (ermäßigt 100 CZK), www.vilastiassni.cz