Reisefrust und Reiselust

Reisefrust und Reiselust

Wer in die Provinz fährt, braucht Geduld – und wird manchmal mit netten Begegnungen belohnt. Ein Ausflug von Prag in die Böhmisch-Mährische Höhe

29. 7. 2015 - Text: Corinna AntonText: Corinna Anton; Foto: Schloss in Náměšť nad Oslavou/www.zamek-namest.cz

Die Reise beginnt mit Platzregen und einer Planänderung. Es ist Samstagmorgen, um 7.30 Uhr wollte ich vom Prager Busbahnhof Florenc nach Jihlava fahren, von dort mit dem Zug weiter nach Kralice nad Oslavou – 200 Kilometer in Richtung Südosten, Fahrtzeit 3 Stunden 50 Minuten. Aber der Bus nach Jihlava ist schon voll. Ich bekomme nur noch ein Ticket für den zweiten, der zwar zur selben Zeit startet, aber 20 Minuten später ankommt. Der Anschlusszug ist dann weg.

Zwei Stunden später erreiche ich Jihlava. Der Busbahnhof ist nicht gerade das Schmuckstück der 50.000 Einwohner zählenden Stadt im Kreis Vysočina (Böhmisch-Mährische Höhe). Vor allem fährt hier kein Bus – also keiner, der mich meinem Ziel näher bringt, zumindest nicht an einem Samstagvormittag in den Sommerferien. Ich muss zum Hauptbahnhof, der knapp drei Kilometer stadtauswärts liegt. Bevor ich eine Haltestelle für den öffentlichen Nahverkehr suche, mache ich mich lieber zu Fuß auf den Weg. „To je kousek“, sagt ein älterer Herr, der mir freundlich beschreibt, wie ich zum Hauptbahnhof komme. „Kousek“ heißt Stückchen – je nach Situation kann es „ein kleines Stückchen“ oder „ein ziemlich großes Stück“ bedeuten, sagt meine Erfahrung. In diesem Fall wohl eher Letzteres.

Nach etwa zehn Minuten erreiche ich den Bahnhof „Jihlava – město“. Ich habe die – wie sich herausstellen wird – verwegene Idee, dass von hier in einigermaßen kurzen Abständen ein Zug zum Hauptbahnhof fahren könnte. Gerade habe ich einen verpasst und der nächste kommt laut Plan in einer Stunde. Immerhin, es gibt eine Toilette. Den Schlüssel verwaltet die Frau am Ticketschalter. Für fünf Kronen händigt sie mir einen „Fahrschein“ (tatsächlich als solcher bezeichnet) aus, der mir erlaubt, die Bahnhofs­toilette aufzusuchen – „Mehrwertsteuer 21 Prozent“ und „einmalige Nutzung“ ist darauf zu lesen. Eine Direktverbindung nach Kralice gibt es in nächster Zeit nicht, aber um 10.29 Uhr, in knapp einer Stunde, kann ich nach Náměšť nad Oslavou fahren und von dort weiter. Mit 25 Minuten Verspätung kommt der Zug und bleibt unterwegs im Nirgendwo noch einmal eine Weile stehen, sodass ich den Anschluss in Náměšť um drei Minuten verpasse. Wartezeit bis zur nächsten Fahrt nach Kralice: 57 Minuten.

Macht aber nichts, denn freundlicherweise hat die EU der Stadt mit etwa 5.000 Einwohnern ein großzügiges Bahnhofsterminal mit drei Wartesälen finanziert, worauf eine Marmortafel an der Außenwand des Gebäudes hinweist.

Nur für besondere Gäste
Die Toilette kann man hier ohne „Fahrschein“ nutzen, ebenfalls kostenfrei steht im Wartebereich eine Steckdose zur Verfügung, an die ein Reisender seinen Laptop angeschlossen hat. Um 13.13 Uhr trifft – diesmal pünktlich – der Zug nach Kralice ein, wo ich nach sieben Minuten mein Ziel erreiche und mit genau zwei Stunden Verspätung eine Freundin aus Deutschland treffe.

Doch die lange Reise hat sich gelohnt, Kralice entschädigt sofort für das ganze Warten. Nicht nur, dass im Museum der 1.000-Einwohner-Gemeinde die Kralitzer Bibel zu sehen ist – sie entstand hier Ende des 16. Jahrhundert und ist die bekannteste Übersetzung ins Tschechische sowie die erste, die aus den Ursprachen Hebräisch und Griechisch übertragen wurde. Vor allem ist die ältere Dame, die im Museum auf Besucher wartet, so begeistert darüber, dass sich zwei Deutsche für ihren Ort interessieren, dass sie gleich eine Sondervorführung an der Druckpresse gibt („Das machen wir nur für Kinder oder Gruppen – und für Gäste aus Deutschland.“). Wie bei einem Stempel trägt sie schwarze Farbe auf die Druckform auf, legt ein Papier unter und drückt den Hebel der Presse nach unten. Als die Böhmischen Brüder in der später zerstörten Kralitzer Feste ihre Bibel druckten, dauerte es 14 Tage, bis die Farbe trocknete; ein Buch kostete damals etwa so viel wie ein halbes Pferd. Später erlangte die Kralitzer Bibel nicht so sehr wegen ihres Inhalts Bedeutung, sondern weil sie im Zuge der nationalen Wiedergeburt im 19. Jahrhundert zum Sprachdenkmal gemacht wurde. Josef Jungmann, der als Erneuerer der tschechischen Schriftsprache gilt, bezog sich in seiner Grammatik vor allem auf den Text und den Wortschatz der Kralitzer Bibel.

Berlin oder München?
Ein weitere Höhepunkt der Reise wartet am Bahnhof von Kralice. Der junge Bahnhofswärter in Uniform ist ebenso erfreut über ausländischen Besuch wie die Dame im Museum und erkundigt sich nach unserer Heimatstadt („Berlin oder München?“). Dann waltet er seines Amtes, dreht an einer Kurbel, die unweit der Gleise angebracht ist – und etwa 200 Meter entfernt, am Bahnübergang, senken sich langsam die Schranken. Würde gleich eine Dampflok einfahren, man würde sich nicht wundern.

Aber die Rückfahrt nach Ná-měšť nad Oslavou klappt problemlos, dort steht ein Zwischenstopp auf dem Schloss an, das seit 2001 als Nationales Kulturdenkmal gilt und unter anderem als Sommerresidenz des zweiten tschechoslowakischen Präsidenten Edvard Beneš bekannt wurde. Eine Passantin reagiert auf die Frage nach dem Weg erst mürrisch. Aber beim Wort „zámek“ („Schloss“) beginnen ihre Augen zu leuchten. Freundlich verrät sie, wo es langgeht. Nach dem steilen Anstieg empfiehlt sich ein Spaziergang im Schlosspark, eine Besichtigung oder eine Einkehr im Schlosscafé, wo frische Salate und lecker belegte Toasts angeboten werden. Kaffee oder Tee servieren die Betreiber mit einem kleinen Blumenstrauß auf dem Tablett.

Der einzige Haken an Náměšť ist, dass man von dort nicht so leicht wegkommt. Vor allem nicht nach Myslibořice, gut 20 Kilometer südwestlich gelegen und das nächste Ziel unserer Reise, weil wir dort im Seniorenheim übernachten werden. Den letzten Zug um 18.13 Uhr haben wir verpasst (mit Umsteigen in Tetčice, Fahrtzeit 1 Stunde 56 Minuten, mit etwa 60 Kilometer Umweg), der nächste fährt am Sonntag um 10.13 Uhr, also entscheiden wir uns, es per Anhalter zu versuchen – eine Schnapsidee, wie sich schnell herausstellt, denn auf den Landstraßen ist gegen 21 Uhr kaum jemand unterwegs, und vor allem will niemand nach Myslibořice, das auf knapp 1.000 Einwohner kommt, wenn man die Bewohner des Seniorenheims mitrechnet. Doch wir haben Glück. Ein Anwalt aus Náměšť, der mit seiner Freundin unterwegs ist und für die Caritas in Brünn arbeitet, nimmt uns ein Stück mit – und entscheidet spontan, uns bis ans Ziel zu fahren, auch wenn er dafür mehr als 20 Kilometer Umweg in Kauf nehmen muss. „Erzählt einfach in Deutschland, dass es hier schön ist und dass die Tschechen nett sind“, das reicht ihm als Dankeschön.

In Myslibořice sind die Bürgersteige schon hochgeklappt, in der Dorfkneipe (fünf Männer, ein Hund) sind wir die Attraktion des Abends. Jeder kann plötzlich ein paar Brocken Deutsch und hat einen Onkel oder einen Bekannten, der in Mannheim oder Stuttgart arbeitet. Hinter dem Tresen werden Fotos aus den neunziger Jahren hervorgeholt, auf denen die Anwesenden an deutschen Autobahnraststätten zu sehen sind. Nach ein paar Bier haben wir unzählige Schwänke aus ihrer Jugend gehört. Wir beziehen unser Quartier im Seniorenheim der Diakonie, das im barocken Schloss des Ortes untergebracht ist. Die Fundamente stammen aus dem zwölften Jahrhundert, umgebaut wurde es im 16. und im 18. Heute hängt eine Karte der Tschechoslowakischen Sozialistischen Republik an der Wand – die Bewohner sollen sich wohlfühlen.

Am Sonntagmorgen kommt der evangelische Pfarrer aus Třebíč, um Gottesdienst zu feiern. Danach nimmt er uns mit dem Auto mit in seine Heimatstadt, die sich seit 2003 mit dem Prädikat Unesco-Weltkulturerbe schmücken darf. „Ich fahre aber wie Michael Schumacher“, warnt uns der Pfarrer. Wir vertrauen auf Gottes Beistand und steigen ein. Schneller als der Anwalt aus Náměšť ist er auch nicht unterwegs, Třebíč erreichen wir wohlbehalten und absolvieren das Pflichtprogramm: Basilika, Jüdisches Viertel, Jüdischer Friedhof, Eisdiele. Als am späten Nachmittag die Abfahrt näher rückt, werden wir ein wenig nervös. Auch aus Třebíč kommt man nicht so leicht weg und der Busbahnhof war den ganzen Tag geschlossen, wir konnten uns noch keine Rückfahrkarten sichern.

Auf dem Stehplatz zurück
Meine Freundin hat Glück. Sie muss wieder nach Myslibořice und erwischt eine der seltenen Direktverbindungen. Als sie einsteigt, ist der Bus leer. Eine halbe Stunde nach der Abfahrt schreibt sie per SMS, dass es bis zum Ende eine Privatfahrt für sie war. Ich warte noch immer auf den Bus, der mich direkt nach Prag bringen soll, während der Bussteig sich langsam füllt. Als ich sehe, dass die anderen Wartenden nach ihren Tickets kramen, wird mir ein wenig bange – ich habe keine Lust, noch einmal eine Odyssee in Bummelzügen zu unternehmen. „Wer eine Platzkarte hat, bitte zu mir“, ruft der Fahrer, als er wenig später die Vordertür öffnet. Ich warte bis zum Schluss und bekomme – besser als nichts – gerade noch eine Stehkarte. Aber schon nach wenigen Minuten bereue ich, dass ich mich nicht für den Zug entschieden habe. Über Landstraße schlängelt sich der Bus von Kurve zu Kurve, bergauf, bergab und hält alle paar Minuten an. „Klaustrophobie darf man hier nicht haben“, sagt mein Stehnachbar. Mir ist schlecht. Erst nach Jihlava wird es besser; wir fahren jetzt wohl Schnellstraße, erahne ich, mittlerweile auf der Treppe zur Hintertür sitzend. Eines steht fest: Beim nächsten Ausflug in die Pampa kaufe ich mir meine Busfahr­karten rechtzeitig.

Sehenswürdigkeiten im Süden der Region Vysočina

Památník Bible kralické, Martinská 228, Kralice nad Oslavou, geöffnet: im August und September täglich 8 bis 16 Uhr, Eintritt 50 CZK (ermäßigt 25 CZK), www.mzm.cz/de

Zámek Náměšť nad Oslavou, geöffnet: im August täglich außer montags 9 bis 18 Uhr (im September bis 17 Uhr), Eintritt 90 CZK (ermäßigt 60 CZK), www.zamek-namest.cz/de

Třebíč. Die romanische Sankt-Prokop-Basilika, das Jüdische Viertel und der Jüdische Friedhof stehen seit 2003 auf der Unesco-Liste des Weltkulturerbes, www.trebic.cz/de