„Zu uns gehört Ihr Eurem Geiste nach“

„Zu uns gehört Ihr Eurem Geiste nach“

Das Hultschiner Ländchen (Teil 2): Gegen den Willen der Bevölkerung fiel die Region 1920 an die Tschechoslowakei

22. 4. 2015 - Text: Josef Füllenbach, Foto: Familienfoto im Heimaturlaub: Soldat aus dem Hultschiner Ländchen in deutscher Uniform während des Ersten Weltkrieges/Fotoarchiv Muzeum Hlučínska

Das Hultschiner Ländchen, unscheinbar und bescheiden im Nordosten Tschechiens gelegen, zeichnet sich durch nichts weiter aus als durch sein wechselhaftes und darum unverwechselbares Schicksal im deutsch-tschechischen Spannungsfeld. Das Land und seine Bewohner sind bis heute von dieser Vergangenheit geprägt. Die „Prager Zeitung“ zeichnet in mehreren Beiträgen die eigentümliche Geschichte des Hultschiner Ländchens nach.

Als im Sommer 1914 der Erste Weltkrieg ausbrach, gehörte das Hultschiner Ländchen 172 Jahre zu Preußen und 43 Jahre zum Deutschen Reich. Über diese Zeitspanne von etwa fünf Generationen hinweg war es den Hultschinern gelungen, ihre mährische Mundart und slawische Identität zu bewahren, aber ansonsten waren sie nun preußisch gesinnt und standen loyal zum Deutschen Kaiser. Auch die seit der Jahrhundertwende erneut verstärkten Bestrebungen zur Germanisierung der slawischen Minderheiten in Preußen hatten daran nichts geändert.

Solange es nämlich möglich war, in der Kirche, in der Familie und im Gasthaus mährisch zu sprechen und in mährischer Sprache die Zeitung zu lesen, schien man zufrieden zu sein. Dies umso mehr, als in wirtschaftlicher Hinsicht die letzten Jahre und Jahrzehnte für viele Hultschiner spürbare Besserungen gebracht hatten: Der Steinkohlebergbau in unmittelbarer Nähe in Petřkovice (Petershofen; heute ein Stadtteil von Ostrava) bestand zwar bereits seit Anfang des 19. Jahrhunderts, nahm jedoch in den letzten Jahrzehnten vor Kriegsbeginn einen rasanten Aufschwung mit entsprechend zunehmenden Beschäftigungsmöglichkeiten – auch für Arbeitssuchende vor allem aus den weiter östlich gelegenen Gemeinden des Hultschiner Ländchens. Parallel dazu entstanden auch im Ländchen selbst erste größere Industriebetriebe, neben Holzverarbeitung und Gießereien namentlich eine Leinenfabrik in Chuchelná (Kuchelna), die mit bis zu 400 Beschäftigten vor dem Krieg zu den größten in Deutschland zählte. Und schließlich brummte die Konjunktur in ganz Schlesien, hatte Einkommen und Nachfrage gesteigert und somit dem Gewerbe der aus dem Hultschiner Ländchen weit nach Preußen ausgreifenden Hausierer Absatz- und Verdienstmöglichkeiten geboten, die erheblich über den bisherigen Rahmen hinausgingen; dieser Broterwerb war besonders populär in Kravaře und Kouty (Kauthen). Von dort gingen ihm über 800 Menschen nach.

Es kam jedoch noch ein weiterer wichtiger Faktor hinzu, der mit ausschlaggebend war für die „nationale Unzuverlässigkeit“, deren die Hultschiner später von den Tschechen geziehen oder zumindest verdächtigt wurden. Denn das vergleichsweise friedliche Hineinwachsen der Hultschiner in das deutsche Umfeld lag sozusagen quer zu den erbitterten, gelegentlich blutigen nationalistischen Grabenkämpfen, die überall in Europa, aber mit besonderer Schärfe im Habsburgerreich gefochten wurden. Weitgehend unbemerkt von den Hultschinern hatte sich gerade in Böhmen, mit einigen Abstrichen auch in Mähren, das Verhältnis der Tschechen zu den Deutschen seit der Zeit der Schlesischen Kriege grundlegend gewandelt. Der Prozess der tschechischen nationalen Wiedergeburt hatte inzwischen zu einem kaum lösbaren Knäuel von national eingefärbten Konflikten geführt, darunter der Sprachenstreit als eines der Probleme, bei dem sich beide Nationen bis zum Kriegsausbruch unversöhnlich in den Haaren lagen. Die Brennpunkte dieser oft tumultuösen und hin und wieder bewaffnet geführten Auseinandersetzungen lagen in Prag und Wien, also weit weg vom Hultschiner Ländchen, dessen frühere enge Bindungen ins Mährische hinein ohnehin gekappt waren.

An dem „Mann von der Straße“ in Hultschin, meist mit dem Lebensunterhalt seiner Familie und dazwischen mit Kirchgang und Vereinsleben beschäftigt, sind diese Entwicklungen vorbeigegangen. An der Herausbildung des tschechischen Nationalbewusstseins im Laufe des 19. Jahrhunderts hatte er so gut wie keinen Anteil genommen. Die neuerdings immer hitzigeren Debatten in den Parlamenten wären ihm ebenso unverständlich erschienen wie die mit spitzer Feder geführten Pressefehden – hätte er diese denn überhaupt wahrgenommen. Oder besser: wahrnehmen können, denn auch sprachlich war den Hultschinern die alte Heimat inzwischen fremd geworden. Sie hatten mehr oder weniger die mährische Mundart bewahrt, mit der sie damals, 1742, zu preußischen Untertanen geworden waren, allenfalls angereichert durch einige polnische und deutsche Einsprengsel. Dagegen hatte sich in Böhmen und Mähren ein modernes Tschechisch herausgebildet, geprägt durch Literatur, Wissenschaft, Technik und sozialen Fortschritt und verbreitet durch eine differenzierte Presselandschaft.

Vor diesem Hintergrund betrachteten die meisten Hultschiner den Kriegsdienst in deutscher Uniform als selbstverständliche Pflichterfüllung; sie hatten dies schon im Frankreichfeldzug 1870/71 unter Beweis gestellt. Im Sommer 1914 war nichts anderes zu erwarten. Die ersten Reservisten aus dem Hultschiner Ländchen bestiegen schon am Sonntag, dem 2. August 1914, einen Tag nach der Bekanntgabe der allgemeinen Mobilmachung, die Züge zu den Aufmarschgebieten. Wie fast überall im Deutschen Reich taten sie das in fröhlicher Stimmung und voller Zuversicht, sich nach einem raschen Sieg schon an Weihnachten wieder am heimischen Herd wärmen zu können. Dass dieser Krieg tief in ihr Leben einschneiden sollte, ahnten die Hultschiner ebenso wenig wie viele Millionen Menschen in anderen Teilen Europas. Überhaupt war es nicht ihre Art, in politischen Kategorien zu denken.

Bittere Verluste
Zunächst jedoch zog sich der Krieg hin und brachte mit den Jahren auch für die Hultschiner zunehmende Einschränkungen und Not. Bezugsscheine benötigte man bald für fast alle Lebensmittel, die zugeteilten Portionen wurden kleiner, die Arbeitslast für die Daheimgebliebenen immer schwerer, die Unterrichtsstunden reduziert – also eine Entwicklung, die sich kaum von der im übrigen Deutschland unterschied und die Unzufriedenheit der Bevölkerung steigerte. Am bittersten war der Verlust an Menschenleben: An den Fronten fielen bis zum Kriegsende 1.743 Hultschiner Soldaten.

Nach dem Krieg kam es auch im Hultschiner Ländchen zu Unruhen, es bildeten sich Arbeiter- und Soldatenräte, Streiks wurden ausgerufen, von den Großgrundbesitzern die Abgabe landwirtschaftlichen Bodens verlangt, vereinzelt kam es zur Umverteilung von Ackerflächen. Doch galt in der allgemeinen Notlage die Hauptsorge der Bevölkerung der materiellen Sicherung des Überlebens. Davon zeugten im Verlaufe der Jahre 1919 bis 1920 Hunderte von Anzeigen wegen Schmuggels. Die Hultschiner Schriftstellerin Anna Malchárková hat in ihrem jüngsten Roman „Vyhnalovec“ („Einöde“, 2014) eindringlich geschildert, wie die Ausweglosigkeit in dieser Zeit viele Menschen zu Schmuggel und Wilderei trieb, um das Notdürftigste für den Lebensunterhalt zu beschaffen.

Auf der anderen Seite der Grenze war unmittelbar nach Kriegsende der neue tschechoslowakische Staat (ČSR) gegründet worden, dessen Regierung sich bei der Friedenskonferenz in Paris gegenüber den Hauptsiegermächten USA, Großbritannien und Frankreich dafür stark machte, den Kreis Ratibor oder zumindest dessen südlichen Teil, das Hultschiner Ländchen, der ČSR anzugliedern. Neben wirtschaftlichen und strategischen Gründen stützte die ČSR ihren Anspruch auf den slawischen Ursprung der Bevölkerung und die jahrhundertelange Zugehörigkeit Schlesiens zur böhmischen Krone von 1335 bis zum Schicksalsjahr 1742. Da es jedoch abwegig war, aus dieser Vorgeschichte die Forderung nach der Überlassung ganz Schlesiens abzuleiten, führte man die mährische Mundart vieler Bewohner als zugkräftigstes Argument an, warum große Teile des Kreises Ratibor der ČSR einzuverleiben seien. Schließlich setzte die ČSR ihre Minimalforderung durch: Artikel 83 des Versailler Friedensvertrags trennte das Hultschiner Ländchen ohne Volksabstimmung vom Deutschen Reich ab und sprach es dem neuen Staat der Tschechen und Slowaken zu. Der größte Ort war schon damals Hultschin, der dem Ländchen fortan als dessen Kreisstadt seinen Namen gab.

Vor und besonders nach der Versailler Entscheidung kam es zu heftigen Protesten der Hultschiner Bevölkerung gegen den erneuten Wechsel ihrer staatlichen Zugehörigkeit. Da anders als im übrigen Oberschlesien keine Volksabstimmung für die Hultschiner vorgesehen war, organisierte man kurzerhand ein freiwilliges Plebiszit. Trotz mancher Fragwürdigkeiten in seiner Durchführung war das Ergebnis eindeutig: Über 90 Prozent der Teilnehmer stimmten für den Verbleib bei Deutschland. Ferner gab es Unterschriftensammlungen, die das Selbstbestimmungsrecht auch für die Hultschiner einforderten, Petitionen wurden an die Regierungen der Siegermächte gesandt, die Frauen setzten sogar eine Bittschrift auf, die sie an den Papst schickten, und, was besonders ins Gewicht fiel, die katholische Geistlichkeit erklärte sich klar gegen den Anschluss an die ČSR: „Wir sind und bleiben der Kirche, der Heimat und unserer Muttersprache treu“ – und das obwohl das Ländchen immer noch zur Diözese Olomouc (Olmütz) gehörte.

„Historischer Augenblick“
Es half alles nichts. Am 4. Februar 1920 übernahm die ČSR mit ihren Soldaten, Polizisten und Behörden das Hultschiner Ländchen, ohne Begrüßung durch die Bevölkerung – sie blieb einfach zu Hause und ignorierte die neuen Herren. In der Nacht zuvor erklang in Hultschin die Melodie des Deutschlandliedes, doch die Besetzung des Hultschiner Ländchens selbst verlief dann ruhig. Eine Bekanntmachung, unterschrieben vom Ministerpräsidenten Vlastimil Tusar und Außenminister Edvard Beneš, verkündete pathetisch: „Nach 178-jähriger gewaltsamer Trennung sind wir wieder in unserem alten Staate vereint. (…) Oft und oft haben wir uns vergebens um die Rückgabe des schönen schlesischen Gebietes bemüht. Erst der heutige historische Augenblick erfüllt, wenn auch nur teilweise, unsere alte gerechte Forderung. (…) Zu uns gehört Ihr Eurem Blute, Eurer Sprache und Eurem Geiste nach. Mit Ruhe und Vertrauen kehrt zurück in Eure alte Heimat!“ Das alles stand in direktem Gegensatz zum Denken und Empfinden der Umworbenen. Wie sollten sie Vertrauen in eine gottlose oder doch den Ketzer Jan Hus wie einen nationalen Götzen verehrende Regierung haben? Zu einer Regierung, die im fernen Prag die Schleifung der Mariensäule zugelassen hatte, während hier die Marienprozession zu den Höhepunkten des Jahres zählte.

Die Grenze, die das Ländchen nun vom Rest des Kreises Ratibor trennte, hatte ein französischer General mit dem Lineal auf der Landkarte gezogen. Da blieb es nicht aus, dass sich eine Reihe von fast rein mährischen Ortschaften auf der deutschen Seite wiederfand, zwei ebenso überwiegend deutsche Gemeinden dagegen zur ČSR geschlagen werden sollten. Letztere blieben ohne Aufhebens dort, wo sie nun waren; bei der starken sudetendeutschen Minderheit fielen die beiden Dörfer ohnehin nicht auf. Aber bei Ersteren gab es ein langes Tauziehen, wonach 1923 die Ortschaften Hať (Haatsch) und Píšť (Sandau) gegen ihren erklärten Willen nachträglich der ČSR eingegliedert wurden. Weitere sechs mährische Dörfer und dazu noch einige Weiler verblieben auf der deutschen Seite und mit ihnen viele Verwandte der Bewohner des Hultschiner Ländchens.

Dass die neuen Herren den Hultschinern wenig Vertrauen entgegenbrachten, war schon am Tag der Übernahme, dem 4. Februar 1920, deutlich geworden. Denn ein „Bevollmächtigter Kommissar“, Josef Šrámek, stand jetzt an der Spitze des Ländchens als besonderer Verwaltungseinheit. In einer Proklamation wies er auf seine Befugnis hin, alle Verordnungen und Befehle zu erlassen, die er für geeignet und angemessen halte. Gegen Störer der öffentlichen Ruhe und Ordnung und gegen jeden, der die Autorität des neuen Staates untergrabe, werde auf das Schärfste eingeschritten. Vilém Plaček, der als Historiker die Geschichte des Hultschiner Ländchens wie kein anderer erforscht hat, stellt dazu noch heute lapidar fest: „Die Berufung auf eine schier unbegrenzte Vollmacht und die Androhung, wie mit Ruhestörern verfahren werde, erinnerten eher an die Proklamation einer kolonisierenden siegreichen Macht als an ein Heimatland, das als Befreier ins Hultschiner Ländchen gekommen war.“ Die Zeichen standen nicht gut für die Eingliederung in den neuen Staat.