Ein Gedicht aus Holz

Ein Gedicht aus Holz

Mit seiner Villa in Brünn wollte Dušan Samuel Jurkovič zu Beginn des vorigen Jahr­hunderts ein Musterbeispiel modernen Wohnens schaffen. Heute gehört das „Lebkuchen­haus“ zu den architektonischen Kleinodien der Stadt

7. 8. 2014 - Text: Maria SilenyText: Maria Sileny; Foto: Moravská galerie Brně

Wer die mährische Metropole Brünn besichtigt, sollte einmal den historischen Stadtkern verlassen und etwa vier Kilometer Richtung Nordwesten fahren. Im Stadtviertel Žabovřesky, in einer unscheinbaren Seitenstraße, wartet eine Überraschung: Eines der Häuser, die dort in ihren Gärten vor sich hin schlummern, ist anders. Hinter dem Eingangstor, das zwei geschnitzte Pfauen schmücken, lugt eine Villa hervor, deren Fassade auffällig gegliedert ist. Unterschiedlich geformte Erker tragen verspielte Details und Ornamente, die an traditionelle Volkskunst erinnern. Das am höchsten gelegene Fenster ist von einem Glas-Mosaik umrahmt. Der Architekt hatte offenbar keine Scheu vor Farbe: Rot, Blau und Gelb strahlen von der Fassade, geben ihr einen fröhlichen Charme. Im Garten vor dem Haus blühen rote und gelbe Rosen. Die Anlage erinnert an ein Märchen, das nicht mit Worten, sondern mit Mitteln der Architektur erzählt wird.

„Lebkuchenhaus“: So wurde die Villa zur Zeit ihrer Entstehung auch genannt. Der tschechoslowakische Architekt Dušan Samuel Jurkovič (1868–1947), der Brünn für zwanzig Jahre zu seiner Heimat wählte, entwarf sie 1905 als Wohnhaus für sich und seine Familie. Zugleich wollte er mit der Villa ein Musterbeispiel des modernen Wohnens schaffen. Jurkovič war zu dem Zeitpunkt bereits ein gefragter Meister seines Fachs. Einige Jahre zuvor hatte er in den mährischen Beskiden eine touristische Anlage entworfen, die für Aufsehen sorgte. Er hatte auch eine Reihe von Gebäuden im südmährischen Kurort Luhačovice gestaltet.

Dušan Jurkovič, der aus einem Dorf im Westen der Slowakei stammte, damals ein Teil von Österreich-Ungarn, war schon früh von der Volkskunst inspiriert, die in seiner Zeit als eine Möglichkeit erschien, die eigenen nationalen Wurzeln wiederzuentdecken. Die Begeisterung für die Kultur und Geschichte des eigenen Volkes hinderte Jurkovič aber nicht daran, sich mit den neuesten architektonischen Trends zu befassen: der britischen Arts & Crafts-Bewegung sowie dem Jugendstil und der Moderne aus Wien. All diese Strömungen verdichten sich in seinem Schaffen zu einer eigenwilligen Architektur mit unverkennbaren Zügen. Ein „Dichter des Holzes“ wurde er genannt, denn Holz war sein bevorzugtes Material.

Singendes Farbenspiel
Für die Brünner Villa wählte er eine Holzfachwerk-Konstruktion, die er auf eine Untermauer aus Steinen anbringen und mit Korkplatten ummanteln ließ. Seine Villa verzierte er, wie andere Bauwerke auch, mit Motiven, die er traditionellen Stickereien entnahm. Zugleich legte er Wert darauf, Wohnräume zweckmäßig zu gestalten, entsprechend den Bedürfnissen der Bewohner. Moderne Technik, wie zum Beispiel elektrische Beleuchtung oder Zentralheizung, ergänzt den Traum vom Wohnen.

Den Innenraum seines Familienhauses dominiert eine in Holz gehaltene Aufenthaltshalle mit Überbau. In ihr spielte sich zum Großteil das Leben der Familie ab, sie war ein Ort der Geselligkeit. Die Sitzecke neben dem Treppenaufgang nutzte der Architekt gerne als „Plauderecke“. Dort, vor einer Wand mit ländlicher Blütenmalerei, soll er mit Freunden bei Wein geistvolle Gespräche geführt haben. Eine Nische, die mit einem Vorhang abgetrennt werden konnte, war der Frau des Hauses und ihrem Besuch vorbehalten. Jurkovič ließ sie mit einem Bücherschrank aus Ahornholz und Polstersitzen ausstatten.

Die Inneneinrichtung – ob Möbel, Stoffe oder Lampen – war dem Architekten genauso wichtig wie die Konstruktion und die Fassade. Vieles entwarf er selbst und achtete dabei stets auf die Wirkung der Farbe. Die Eingangshalle, die jeder passieren musste, der zu weiteren Räumen gelangen wollte, ist – ähnlich wie die Fassade – in Blau, Rot und Gelb gehalten. Von „lebendigen Farben, die von der Liebe zum starken Leben singen“, schwärmte einst ein Freund des Architekten.

Nicht nur die Inneneinrichtung, auch die Lage des Hauses ist ein Teil des Gesamtkunstwerks. Dušan Jurkovič wählte sein Grundstück bewusst außerhalb des Stadtkerns, am Waldrand, unweit des Flusses Svratka. Und schuf damit einen Traum vom modernen Wohnen, eingebettet in die Natur. Doch keineswegs neigte er dazu, sich in seiner Traumwelt abzuschotten. So öffnete er unmittelbar nach der Fertigstellung des Hauses 1906 das Eingangstor für die Öffentlichkeit und lud zu einer Ausstellung über Architektur und Kunsthandwerk. Besucher konnten sich über das Schaffen des Hausherrn informieren und zugleich sein Familienhaus als Muster moderner Baukunst kennenlernen. Die fünfköpfige Familie zog anschließend ein und lebte dort bis 1919.

Offen für Experimente
Heute gehört die Villa dem Staat, der das renovierungsbedürftige Haus mit Garten im Jahr 2006 seinem letzten Privateigentümer für umgerechnet etwa eine halbe Million Euro abkaufte. Anschließend fand eine aufwändige Renovierung statt, die sich auf eineinhalb Millionen Euro belief.

Seit 2011 kann die Villa besichtigt werden. Die Mährische Galerie macht in einer Dauerausstellung Besucher mit dem Werk Dušan Jurkovičs bekannt und knüpft damit an die Ausstellung an, die der Architekt selbst vor mehr als 100 Jahren veranstaltete.

Parallel laufen im Haus Ausstellungen zu moderner Architektur und Kunst. Bis Ende kommenden Jahres können in der Eingangshalle Werke des jungen mährischen Designerduos Martin Imrich und Jiří Přibyl besichtigt werden. „Moderne Kunst passt ins Haus, denn Dušan Jurkovič selbst hat die üblichen Wege der Architektur seiner Zeit verlassen, war offen für Experimente und schuf einen neuen Stil“, sagt Kuratorin Martina Lehmannová. Seine Gebäude hätten „einen eigenen, unverwechselbaren Charakter“.

Umso erstaunlicher ist es, dass weder der Name des Architekten noch seine Werke der breiten Öffentlichkeit bekannt sind. Und kaum einer weiß, dass in der Brünner Innenstadt (Dvořákova 10) noch ein weiteres von Jurkovič errichtetes Gebäude steht. Es ist ein Mietshaus im Jugendstil, dessen Fassade Jurkovič mit bunten Gläsern verzieren ließ. Architekten sprechen von einer der schönsten Fassaden Brünns. Doch weil sie nicht renoviert ist, fällt diese Schönheit kaum auf. Und auch wenn eine am Haus angebrachte Gedenktafel an Jurkovič erinnert, laufen Passanten ahnungslos daran vorbei.

Jurkovičova vila, Jana Nečase 2, Brünn–Žabovřesky, geöffnet: täglich außer montags 10–12, 12.30–18 Uhr (bis 31. Oktober), Eintritt: 100 CZK (ermäßigt: 50 CZK; deutschsprachige Führungen nach vorheriger Anmeldung 130 CZK/Person), Tel. (+420) 532 169 501, E-Mail: jurkovic@moravska-galerie.cz, www.moravska-galerie.cz/Jurkovičova-vila

Villa Tugendhat
Anders als die Villa Jurkovič gehört die Villa Tugendhat zu den sehr bekannten Sehenswürdigkeiten Brünns. Die Villa, die nach den Entwürfen des deutschen Architekten Ludwig Mies van der Rohe für das jüdische Ehepaar Grete und Fritz Tugendhat in den Jahren 1929 und 1930 gebaut wurde, gilt als einmaliges Denkmal moderner funktionalistischer Architektur. Das dreigeschossige Bauwerk ist terrassenförmig in einen Hang eingebaut. Mit dem Wohnraum im zweiten Geschoss hat der Architekt die Idee des frei fließenden Raumes realisiert. Dank einer großzügigen Fensterfront öffnet sich der 280 Quadratmeter große Raum in den Garten und verbindet Innen und Außen zu einer Einheit.
Die Villa ist täglich außer montags von 10 bis 18 Uhr für stündliche Führungen geöffnet. Der Besucherandrang ist hoch, deswegen empfiehlt es sich, Eintrittskarten mindestens einen Monat im Voraus zu reservieren. Mehr Informationen unter www.tugendhat.eu   (ms)