Kommentar

Protest an der Macht

Protest an der Macht

Nach den Parlamentswahlen in Tschechien steht das alte Parteiensystem am Scheideweg – und Wahlsieger Babiš vor einem ersten Problem

24. 10. 2017 - Text: Marcus Hundt, Titelfoto: Petr Bednář

 

Vier Jahre hat Andrej Babiš auf sein Ziel hingearbeitet. Am Wochenende hat er es erreicht. Mit fast 30 Prozent der Stimmen gewann seine vor fünf Jahren gegründete ANO die Wahlen zum Abgeordnetenhaus. Das gegen ihn eingeleitete Strafverfahren im Fall Storchennest (Čapí hnízdo) konnte dem Multimilliardär aus der Slowakei ebenso wenig anhaben wie seine mutmaßliche Agententätigkeit für den tschechoslowakischen Geheimdienst. Seit wenigen Tagen untersucht das Kreisgericht in Bratislava den Fall erneut. Babiš wird nun aller Voraussicht nach nicht nur Bohuslav Sobotka (ČSSD) als Ministerpräsident beerben, sondern darf sich auch aussuchen, mit wem er in Koalitionsgespräche treten will.

Insgesamt schafften neun Parteien den Sprung in die untere Parlamentskammer – mit Ausnahme von ANO erreichte keine mehr als zwölf Prozent. Auch das ein Vorteil für den Wahlsieger, denn von den Oppositionsbänken kann kein starker Gegenwind aufkommen. Ein Anti-Babiš-Block liegt in weiter Ferne, die Programme und Ansichten der künftigen Fraktionen weichen zu sehr voneinander ab. Dabei spielt es auch keine Rolle, wer sich in die Regierung traut und wer in die Opposition geht.


Ergebnis der Parlamentswahlen am 20./21. Oktober 2017

Ergebnis der tschechischen Parlamentswahlen: Zum ersten Mal werden neun Parteien im Abgeordnetenhaus vertreten sein.


Fest steht: Bereits vor der Wahl hatte ANO ein Bündnis mit den Kommunisten (KSČM) und der rechtsextremen Partei von Tomio Okamura (SPD) ausgeschlossen. Anlass zur Sorge sollte die auf Islamophobie und der Forderung eines EU-Austritts basierende Kampagne der SPD dennoch geben. Immerhin kam sie bei knapp elf Prozent der Wähler hervorragend an. Dabei profitieren nur wenige Länder so sehr von ihrer Mitgliedschaft in der EU wie Tschechien. Und wenn ein Land in zwei Jahren nur zwölf Flüchtlinge (anstatt der laut Umverteilungsplan von Brüssel gewünschten 2700) aufnimmt und nun fast doppelt so viele Abgeordnete der SPD im Thun-Palais auf der Prager Kleinseite Platz nehmen, sollte das zu denken geben. Gewiss haben mit Ausnahme von TOP 09 alle in das Parlament gewählten Parteien die ablehnende Haltung der bisherigen Regierung zu den Flüchtlingsquoten unterstützt. Doch niemand schürte so große Ängste vor einer Überfremdung wie Okamura oder führte ein Verbot des Islam in seinem Wahlprogramm.

Der Wahlerfolg von ANO zeichnete sich bereits vor einem Jahr ab.

Die Parlamentswahlen kommen mal wieder einem Erdbeben gleich. Die Metapher wird besonders in Tschechien gern verwendet. Vor allem nach Regionalwahlen, in denen das Volk die Partei des Regierungschefs regelmäßig abstraft. Vor einem Jahr traf es folgerichtig die Sozialdemokraten. Doch zum ersten Mal in der Geschichte des Landes profitierte davon nicht die Oppositionspartei auf nationaler Ebene, sondern ein Koalitionspartner. Damals holte ANO in zwölf von 13 Kreisen die meisten Stimmen und machte das ungeschriebene Gesetz zunichte. Zu diesem Zeitpunkt ahnten die meisten bereits, dass diese Partei im Herbst 2017 ein noch viel größeres Erdbeben auslösen wird. Am Ende, so titelte das Wochenmagazin „Respekt“, kann man sogar von einer „Babiš-Revolution“ sprechen.

Die ODS und die ČSSD stellten bislang jeden tschechischen Ministerpräsidenten (abgesehen von den Übergangsregierungen). Nun sind sie nur noch zwei unter vielen. Vor elf Jahren stimmten rund 70 Prozent für eine der beiden Parteien, am Wochenende weniger als 19 Prozent. Auch andere Traditionsparteien rutschten ab: Die Kommunisten (KSČM) bekamen nur noch halb so viele Stimmen wie 2013, die Christdemokraten schafften nur knapp den Einzug ins Parlament (KDU-ČSL).

Die sogenannten Protestparteien – in Tschechien oft als Anti-System-Parteien bezeichnet – erreichten hingegen über 60 Prozent. Stellen sie wirklich die Entwicklung seit der politischen Wende infrage, wie einige Kommentatoren meinen? Auch der Erzbischof von Prag denkt ähnlich, indem er bemerkt, dass die Parteien gewonnen hätten, „die keinen Beitrag an 25 Jahren unserer Freiheit haben.“

Die Regierungsbildung dürfte schwierig werden.

Obwohl ANO an der Regierung beteiligt war, verkauft sie sich noch heute als „Bewegung unzufriedener Bürger“ und konnte den Ruf einer Protestpartei aufrechterhalten. Die Wahlen haben gezeigt, dass es einem Großteil egal ist, ob die Polizei gegen Babiš ermittelt oder nicht. Die Taktik der ČSSD, ihn wegen des möglichen EU-Subventionsbetrugs als Finanzminister abzusetzen und damit den absehbaren Wahlerfolg zu verhindern, schlug gründlich fehl. Stattdessen kauften viele Wähler dem „Anti-Politiker“ offenbar ab, die Erfolge der Regierung seien allein auf seine Partei zurückzuführen. Vom massiven Stimmenverlust der Sozialdemokraten (minus 14 Prozent), ähnlich wie bei den Regionalwahlen vor einem Jahr, profitierte vor allem ANO.

Der Siegeszug des Geschäftsmannes, der den Staat nun mehr denn je „wie eine Firma führen“ kann, wäre ohne all die Skandale um Korruption und Klüngelei in der tschechischen Politik wahrscheinlich ausgeblieben. Dabei ging die Vetternwirtschaft auch mit Babiš weiter. Doch offenbar stören sich zu wenige daran, dass Angestellte seines Konzerns Agrofert im Parlament sitzen.

Aller Voraussicht nach wird Staatspräsident Zeman den Wahlsieger in der kommenden Woche mit der Regierungsbildung beauftragen. Doch die dürfte sich schwierig gestalten. Babiš sprach sich zwar für eine Zweierkoalition aus, allerdings wäre diese nur mit der ODS möglich. Also ausgerechnet mit der Partei, die ANO stets als Teil des „alten korrupten Systems“ dämonisierte. Und vor der Wahl hieß es bei den Bürgerdemokraten, niemals werde man mit Babiš koalieren und stünde überhaupt nur bei einem Wahlergebnis über 15 Prozent für Koalitionsgespräche bereit. Auch die Christdemokraten von Pavel Bělobrádek wollen von der Regierung in die Opposition wechseln. Würden alle Parteien zu ihren Aussagen stehen, käme eine von Babiš geführte Regierung nicht zustande. Doch wer will daran wirklich glauben?