Neue Gräben

Neue Gräben

Erik Tabery, Chefredakteur des tschechischen Wochenmagazins „Respekt“, über die gewandelte Beziehung der mittel- und osteuropäischen Staaten zu Deutschland

10. 8. 2016 - Text: Erik TaberyText: Erik Tabery; Fotos: Kleinschmidt/MSc und Vláda ČR

Dass postkommunistische Politiker immer mal wieder Deutschlands nationalsozialistische Vergangenheit hervor­holen, ist nichts Neues. Meistens hören wir solch konstruierte Argumente aus Polen, ab und an aus Ungarn. Kürzlich hat sich auch die Tschechische Republik angeschlossen, wo Präsidentensprecher Jiří Ovčáček in sozialen Netzwerken auf skandalöse Weise auf Deutschland als das „Reich“ anspielte. Meiner Meinung nach sind das – neben weiteren Entwicklungen – Anzeichen dafür, dass sich nicht nur die Beziehungen dieser Länder zu Deutschland ändern, sondern auch zum Westen als Ganzes. Und ich glaube, dass wir dieser Entwicklung auf beiden Seiten Europas mehr Aufmerksamkeit schenken sollten als bisher.

Zauber der Unbeweglichkeit
Der Unterschied zwischen dem westlichen Europa auf der einen Seite und Mittel- oder Osteuropa auf der anderen ist viel größer, als wir uns in den vergangenen Jahren eingestanden haben. Vielleicht hat uns in die Irre geführt, dass wir augenscheinlich – zumindest gilt das für Tschechien – den Westen eingeholt haben. Unsere Städte sind immer hübscher hergerichtet und herausgeputzt, unsere Autos unterscheiden sich kaum von denen im Westen, ebenso die Sortimente in unseren Geschäften. Dennoch gibt es Unterschiede ganz grundsätz­licher Art, die meist in Krisenzeiten zum Ausdruck kommen.

So zum Beispiel in der Flüchtlingskrise. Der größte und meiner Meinung nach am stärksten unterschätzte Unterschied liegt in der Beziehung zum Risiko. Der kommunistische Totalitarismus lehrte jeden eine ein­fache Regel: Wenn du Ruhe gibst, nicht aus der Reihe tanzt, dann werden wir dich garantiert in Frieden lassen. Gleich mehrere Generationen sind daher in dem Glauben aufgewachsen, dass Politiker für Ruhe sorgen, für eine gewisse historische „Unbeweglichkeit“, die der slowakische Dissident Milan Šimečka so gut beschrieben hat.

Nach dem Fall des Totalitarismus glaubte die Mehrheit der Menschen, dass die Unbeweglichkeit andauern werde, mit dem Unterschied, dass wir nun reicher sein würden, so wie es damals die Menschen im Westen waren. Nur wenige waren darauf vorbereitet, dass mit dem Reichtum des Westens zum Beispiel auch die Notwendigkeit zusammenhängt, gegen Konkurrenz zu bestehen – dass ich meine Arbeit verlieren kann, weil mein Unternehmen keine hochwertigen Produkte herstellt und so weiter.

Das alles haben wir zwar mit der Zeit gelernt und auch die Menschen im Osten verstehen heute bereits die Grundregeln des „Lebens im Westen“. Neu ist jedoch, dass wir zum ersten Mal seit dem Ende der achtziger Jahre den Eindruck haben, nicht nur unsere Privatsphäre sei bedroht, sondern auf ihre Art auch die „nationale“ Sphäre.

Unter der Wucht der Flüchtlingskrise oder terroristischer Angriffe (man muss hinzufügen, dass Mittel- und Osteuropa paradoxerweise nichts davon betrifft) erwachen auf einmal alte, aus Zeiten des Totalitarismus überlieferte Codes wieder zum Leben – nämlich, dass die da oben fähig sein müssen, für Unbeweglichkeit zu sorgen – für absolute Unbeweglichkeit.

In Polen, Tschechien, Ungarn und der Slowakei beobachten wir deswegen zunehmend Politiker, die sagen: Wir garantieren euch Ruhe und wir werden dafür sorgen, dass das so bleibt.

Dass die Anschläge sich ausschließlich gegen westliche Länder richten, liefert diesen Politikern noch kostenlose Argumente. Denn sie können an ihren erlogenen Behauptungen festhalten, sie würden ihre Rolle im Gegensatz zu den Politikern im Westen gut beherrschen.

Die Regierungschefs der Visegrád-Gruppe – Fico, Szydło, Sobotka und Orbán – bei einem Treffen in Prag

Experten für alles
Die Politik dieser Populisten knüpft an den Stil an, den wir noch von kommunistischen Funktionären kennen. Zum Beispiel, dass sie niemals Zweifel äußern, alles verstehen und für alles eine Lösung haben. Ich möchte das anhand des tschechischen Präsidenten Miloš Zeman zeigen: Er gibt Experten im Böhmerwald Ratschläge, wie sie die Borkenkäferplage bekämpfen sollen, hat eine Antwort auf die Frage, wie man Kinder mit Behinderung am besten unterrichtet, er weiß, was gegen Wassermangel in tschechischen Flüssen zu tun ist, wo Umgehungsstraßen verlaufen sollen und ähnliches.

Doch leider ist nicht nur der Ansatz der „Experten für alles“ auf die politische Bühne zurückgekehrt, sondern auch die alte Einstellung zu Deutschland. Ein Großteil der kommunistischen Propaganda begründete sich darauf, dass Westdeutschland zum Nationalsozialismus zurückwolle. Deswegen müssen wir stets aufrüsten und die Grenzen bewachen. So haben die Kommunisten – und später sogar die postkommunistischen Politiker – immer wieder die Bedrohung durch Deutschland hervorgeholt, wenn ihnen das Wasser bis zum Halse stand.

In Tschechien waren und sind Václav Klaus und Miloš Zeman Meister dieser Disziplin. Deshalb kehren nun unauffällige Anspielungen auf das „Reich“ zurück ins Spiel; sie sollen rechtfertigen, dass fast alles abgelehnt wird, was in Deutschland passiert. Gelegentlich hört man sogar dezente Hinweise darauf, dass die Flüchtlingskrise in Wirklichkeit von Deutschland gesteuert werde, das dadurch Europa beherrschen wolle.

Die Populisten haben es aus einem Grund besonders einfach: Deutschland versteht eigentlich niemand. Damit will ich nicht sagen, dass es nicht zu verstehen ist, sondern dass die Informationen, die man über Deutschland bekommt, verkürzt sind und sehr oft manipulativ antideutsch. Die tschechische Öffentlichkeit, die verkrampft bis panisch ist vor lauter Angst vor allem, was mit Flüchtlingen zusammenhängt, begreift daher nicht die bewundernswerte Fähigkeit der deutschen Gesellschaft, auch in ernsten Momenten ruhig zu bleiben; und in Tschechien erklärt man sich das damit, dass die Deutschen manipuliert sind, weil sie es mit einer Verschwörung von Politikern und Journalisten zu tun haben.

Unterschiedlich ist auch die Debattenkultur. Unsere Tradition ist es, darüber nachzudenken, was die anderen falsch gemacht haben, nicht wir selbst (das hängt zweifelsohne mit unserer Vorstellung zusammen, dass wir immer das Opfer der Spiele von irgendjemandem sind). In dieser Hinsicht ist es für mich interessant, die deutsche Presseberichterstattung zu verfolgen, die eine gegensätzliche Perspektive hat – also sich vor allem mit der Verantwortung des eigenen Landes beschäftigt.

Ein Risiko namens Trump
Ich bin überzeugt, dass eine nicht unbedeutende Verantwortung paradoxerweise die Anhänger europäischer Aufgeschlossenheit und Zusammenarbeit tragen, zu denen auch ich mich zähle. Während die europäische Integration in vielen technischen Fragen so weit fortgeschritten ist, dass die Union sich mit Glühbirnen beschäftigt, bleiben Gedanken noch immer an den Grenzen hängen.

Die europäische Debatte, also nicht nur die deutsche, dringt in den tschechischen öffentlichen Raum fast gar nicht vor. Das hat zur Folge, dass wir uns gegenseitig nicht verstehen und stärker dazu neigen, uns verlassen zu fühlen. Es geht aber nicht nur um einen Mangel an Informationen über unsere Nachbarn. Noch schlimmer sieht es im Verhältnis zur Politik aus.

Mir ist klar, dass man von deutschen Politikern nicht verlangen kann, für tschechische Journalisten ebenso zur Verfügung zu stehen wie für die deutschen. Bedenkt man jedoch, dass zum Beispiel Entscheidungen der deutschen Kanzlerin Angela Merkel zweifellos auch Einfluss auf die tschechische Gesellschaft haben, ist es in meinen Augen ein fataler Fehler, dass in den zehn Jahren ihrer Amtszeit in tschechischen Medien nur ein einziges Interview erschienen ist. Dabei sind die tschechischen Medien ihr gegenüber kritisch, manchmal sogar übertrieben kritisch. Merkels Stimme sollte hierzulande also ertönen.

Obgleich sich die Situation in Mittel- und Osteuropa ändert, ist meiner Meinung nach noch nichts entschieden. Es ist noch immer möglich – ich würde eher sagen, es ist nötig – für gegenseitiges Verständnis zu sorgen. Wir sollten an unseren Beziehungen zueinander arbeiten, miteinander sprechen, kooperieren, statt den gesamten Raum der russischen Propaganda zu überlassen, die bei uns so mächtig ist.

Wir sollten dabei auch nicht vor Verschiedenheit und Kontrasten zurückschrecken. Unterschiede wird es immer geben. Deutschland ist auch anders als zum Beispiel Frankreich; und Tschechien unterscheidet sich wahrscheinlich in mehr Kategorien von Polen als es ihm ähnlich ist. Schauen Sie nur, wie viele Millionen Polen im Ausland Arbeit suchen und finden. Die Tschechen dagegen sind es gewohnt, zu Hause zu sitzen.

Außerdem glaube ich noch immer, egal in welcher Weise sich der Osten vom Westen abgrenzt, dass die Mehrheit ihn bewusst als eine Art Vorbild wahrnimmt. Das kommt auch ein wenig aus Zeiten des Totalitarismus, als die Frauen davon träumten, zwischen mehr als zwei Kleidern zu wählen und die Männer davon, ein besseres Auto als einen Lada zu fahren.

Dass der Westen als Vorbild wahrgenommen wird, ist gut, denn ich habe den Eindruck, dass wir noch immer etwas zu lernen haben, wenn es um unsere Einstellung zur Demokratie geht. Nichtsdestotrotz gibt es auch ein riesiges potenzielles Risiko – und das heißt Donald Trump. Es ist das erste Mal in unserer Geschichte, dass ein Präsidentschaftskandidat in den Vereinigten Staaten keinesfalls Dissidenten oder Anhänger der Demokratie inspiriert, sondern im Gegenteil ihre Widersacher.

Man muss sich nur auf YouTube umsehen, wo tschechische Ex­tremisten, die nach der Wiedereinführung von Konzentrationslagern rufen, Videobotschaften an Trump senden. Falls er gewinnt, dient das ohne Zweifel als sicheres Alibi für eine immer stärker von Radikalismus und Fremdenfeindlichkeit geprägte Politik in Mittel- und Osteuropa.

In kleinerem Maße hat bereits der Brexit eine ähnlich negative Rolle gespielt. Denn wenn die Briten, die wir alle als eine Art Lehrmeister der Demokratie in Europa achten, dem billigen Populismus unterliegen können und auch noch stolz darauf sind, warum sollten wir das dann nicht auch können?

Es ist erstaunlich, wie einfach Verneinung zu Inspiration wird, die problemlos Grenzen überschreitet.