Warum Schwejk ein Buddhist sein könnte

Warum Schwejk ein Buddhist sein könnte

Auch in Tokio lernen Studenten Tschechisch. Eine Begegnung mit dem japanischen Bohemisten Kenichi Abe

14. 9. 2016 - Text: Maria SilenyText und Fotos: Maria Sileny

Langsam geht in Tokio die Sonne unter. Zwischen den Hochhäusern rund um den Bahnhof Shinagawa im Süden der Megastadt herrscht schwüle Hitze. In die Gesänge der Zikaden mischt sich das Pfeifen der Ampel, wenn sie auf Grün schaltet. Eine Menschenmenge wälzt sich über die breite Kreuzung zum Labyrinth der Bahnhofshallen. Innen sehen sie aus wie eine mehrstöckige Stadt. Zielsicher steuert der Hochschullehrer Kenichi Abe durch das unübersichtliche Gelände voller Geschäfte, Restaurants und Fahrkartenautomaten. Er kennt die Hauptgänge und ihre vielen Verzweigungen. Vor allem aber weiß er, wo man sich bei gutem Essen in der gemütlichen Ecke eines klimatisierten Raums unterhalten kann – zum Beispiel auf Tschechisch. Denn Kenichi Abe ist einer der wenigen Japaner, die diese Sprache beherrschen.

Genau genommen gehört Abe zu den ersten Bohemistik-Absolventen Japans. Der Studiengang Tschechisch wurde dort erst 1991 eingeführt, kurz nach der Samtenen Revolution. Seitdem gibt es einen spärlichen, aber regelmäßigen Zulauf. Abe lehrt nun selbst an zwei Universitäten in Tokio Tschechisch; er betreut derzeit 25 Studenten, die er in die Geheimnisse der tschechischen Literatur und Grammatik einführt. In der Komplexität der für Japaner exotischen Sprache orientiert sich der 43-Jährige mindestens so gut wie im Labyrinth des Shinagawa-Bahnhofs.
Seinen Prager Besuch hat er inzwischen in ein Restaurant im Untergeschoss gelotst. Gleich bestellt er eine Auswahl an Fischgerichten. Dazu gehört Sashimi – roher Fisch, in feine Scheiben geschnitten und kunstvoll auf einer Platte angeordnet – mit Sojasauce, Wasabi und Meeresalgensalat. Zum Trinken gibt es „pivečko“, ein „Bierchen“, wie Abe sagt.

Hrabal auf Japanisch
Gut gelaunt erzählt der Bohemist von den vielen Verkleinerungsformen im Tschechischen. Sie sind seltsam für einen Japaner. Genauso wie die unendlich vielen Schimpfwörter. Die bringen japanische Übersetzer richtig ins Schwitzen. In ihrer Sprache gibt es nämlich kaum welche.

Abe weiß, wovon er spricht, denn er hat unter anderem Bohumil Hrabals „Postřižiny“ („Kurzgeschnitten“) und „Obsluhoval jsem anglického krále“ („Ich habe den englischen König bedient“) ins Japanische übertragen. „Beim Übersetzen muss ich mir oft neue Wörter einfallen lassen“, sagt er. Japanisch sei eine ganz andere Sprache als Tschechisch. Die Zeichen sind Bilder, häufig gibt es Lautmalereien.

Unter den Händen des Übersetzers wird ein literarisches Werk in eine andere Lebens- und Gedankenwelt übertragen. Dabei soll der japanische Leser vor allem verstehen, worum es dem tschechischen Autor geht. Der andere Blickwinkel, die andere Erfahrung bereichern ihn, lesend nimmt er daran Teil, was ein Tscheche erfahren hat. Und das kann durchaus ungewöhnlich sein.

Japaner kennen keine Revolutionen, keine gesellschaftlichen Umbrüche. Deswegen staunten sie über die wechselvolle Geschichte Europas, die ein häufiges Thema tschechischer Literatur sei, so Kenichi Abe. Mit Begeisterung hat der Professor deswegen Patrik Ouředníks Weltbestseller „Europeana“ übersetzt und erhielt prompt eine Auszeichnung dafür.

Bahnhof Shinagawa im Süden der Megastadt

Rabenschwarzer Humor
Mit ähnlicher Begeisterung hat er auch den Roman „Spalovač mrtvol“ („Der Leichenverbrenner“) von Ladislav Fuks japanischen Lesern zugänglich gemacht. Kein anderer habe das Thema Holocaust so kunstvoll verarbeitet – als psychologischen Horror, gespickt mit rabenschwarzem Humor, sagt der Japaner voller Anerkennung. Surrealistische Literatur und Kunst faszinieren Menschen in seiner Heimat; sie helfen, den mühsamen Alltag für eine Weile zu vergessen. Nicht von ungefähr gilt der Filmemacher Jan Švankmajer als der bekannteste lebende Tscheche in Japan. „Die Kraft der tschechischen Imagination, des Vorstellungsvermögens ist einmalig“, sagt Abe. Er prostet mit „pivečko“, dem Bierchen, zu. „Campai!“ sagt man auf Japanisch.

Sein hervorragendes Tschechisch hat Abe im Prager Stadtviertel Žižkov gelernt, wo er zwei Jahre verbracht hat. Das Leben dort sei viel entspannter als in Tokio, sagt er. Gerne kehrt er ein bis zweimal im Jahr in die Stadt an der Moldau zurück, besucht die Nationalbibliothek im Klementinum, das Museum tschechischer Literatur auf dem Gelände des Klosters Strahov und vergisst nicht, in der Kneipe „U černého vola“ („Beim schwarzen Ochsen“) vorbeizuschauen.

Auf seinen Streifzügen entdeckt der Professor immer wieder etwas Neues. Derzeit schreibt er ein Buch über den Künstler Karel Teige (1900–1951), der in seinem Schaffen Architektur, Film und Literatur verband. Die Verschmelzung von Kunst und Literatur, wie es sie in Tschechien gibt, schätzt Abe sehr. Seine Doktorarbeit widmete er dem Dichter und bildenden Künstler Jiří Kolář (1914–2002), der eine neue, visuelle Art zu schreiben erfand.

Von Comenius bis Ajvaz
Kenichi Abes Studenten, meistens eher Studentinnen, finden mehrheitlich über klassische Musik zur tschechischen Literatur. Erst hören sie Smetana, Dvořák, Janáček, dann wollen sie die Sprache und die Heimat der Musiker kennenlernen. Abe macht sie in seinen Seminaren mit der ganzen Palette tschechischer Literatur bekannt, von Johann Amos Comenius über Jaroslav Hašek bis Michal Ajvaz.

Zu Hašeks Schwejk hegt er eine besondere Sympathie: „Er ist ein typisch tschechischer Charakter. Während um ihn herum der Erste Weltkrieg mit allen seinen Schrecken tobt, bleibt er ruhig und schwätzt und plappert und quasselt.“ Eigentlich sei Schwejk auch sehr japanisch. „Wie er nehmen auch wir Japaner alles an, so wie es ist“, erklärt Abe. Einmal werde er einen Artikel über Schwejk als Buddhist schrei­ben, meint er lachend. Als Anleitung zum Überleben sozusagen. Denn in Japan begehen jedes Jahr 30.000 Menschen Selbstmord. Besser wäre es, wie Schwejk zu palavern, den Humor nicht zu verlieren und zu überleben, sagt Kenichi Abe.

Die gut klimatisierte Kneipe hat sich inzwischen bis zum letzten Platz gefüllt. An allen Tischen wird gelacht, geredet, mit Essstäbchen hantiert. Käme Schwejk nach Tokio, würde er sich über diese Szene freuen. Und sicher auch stoisch die brütende Hitze ertragen, die einem entgegenschlägt, sobald man den klimatisierten Raum verlassen hat.