„Der Markt erlaubt alles“

„Der Markt erlaubt alles“

Der Violinist Gidon Kremer hat viele unbekannte Komponisten entdeckt – und inzwischen auch Mitstreiter gefunden

31. 8. 2016 - Text: Jan NechanickýInterview: Jan Nechanický; Foto: Kasskara/ECM Records

Gidon Kremer ist ein Geiger, der vieles anders macht. Obwohl er schon als junger Mann zu den besten Instrumentalisten der Welt gehörte, entschied er sich, gegen den Strom zu schwimmen. Er fing an, unbekannte und teilweise unerwünschte Komponisten zu spielen und interpretierte auch Klassiker neu. Neben seiner musikalischen Tätigkeit widmet sich Kremer auch der Literatur. Zuletzt erschien sein Buch „Briefe an eine junge Pianistin“, in dem er sich mit dem Konflikt zwischen Kunst und ihrer Vermarktung beschäftigt. Am 14. September kommt der Lette in die tschechische Hauptstadt. Mit seinem Ensemble Kremerata Baltica tritt er beim Festival „Dvořákova Praha“ im Rudolfinum auf.

In Ihrem Buch wenden Sie sich an eine junge Pianistin. Sie soll sich nicht vom schnellen Erfolg verleiten lassen und auf ihr musi­kalisches Gewissen hören, raten Sie ihr. Sehen Sie einen notwendigen Konflikt zwischen Publikumswirksamkeit und musikalischem Wert?
Es geht nicht um einen Konflikt zwischen dem Publikum und dem Interpreten, sondern um die Einstellung der Interpreten zur Musik und dem Beruf. Mein Aufruf ist, sich nicht vom Wunsch nach Anerkennung und Erfolg verführen zu lassen, sondern den Beruf mit Respekt vor den Partituren und Autoren auszuüben. Jeder Interpret sollte der Musik zu dienen und sie nicht für eigene Zwecke ausnutzen.

Sie sind in der Sowjetunion aufgewachsen und haben dort Ihre musikalische Ausbildung erhalten. Was gab es in der Sowjet­union, das in der westlichen Musikwelt von heute fehlt?
Ich will meine Antwort keinesfalls mit der Politik verbinden, denn ich stehe sehr kritisch zu vielem, was sich heute im „neuen Russland“ tut. Ich habe meine Ausbildung in einer der besten Musikakademien der Welt erhalten und durfte acht Jahre bei dem großen David Oistrach studieren. Gerade da wurde mir für immer eingeimpft, dass man Musik nicht zur Unterhaltung ausübt, sondern dass Beruf und Berufung Hand in Hand gehen sollten.

Und umgekehrt: Was würden Sie sich für das Russland von heute wünschen?
Dass weniger gelogen wird, dass man die Gehirnwäsche erkennt, und dass die Menschen weniger Angst und mehr Freude erleben.

Sie haben in Ihrem Leben moderne Komponisten wie etwa Alfred Schnittke, Arvo Pärt oder Luigi Nono berühmt gemacht und Klassiker wie Beethoven unkonventionell interpretiert. Glauben Sie, dass Sie für Ihre Anliegen inzwischen Mitstreiter haben?
Ich bewundere alle jungen Musiker, die ihren eigenen Weg gehen und sich in ihrem Repertoire nicht vom Geschäft mit der Musik und ihren Managern beeinflussen lassen. Zum Glück gibt es neben den vielen und sehr ähnlichen aufstrebenden Stars auch wahre und sehr interessante Seelen. Sie sind für mich eine Bestätigung, dass die Musik eine Zukunft haben kann.

Erlaubt der heutige Markt es jungen, noch unbekannten Musikern überhaupt, neue Komponisten zu entdecken, unkonventionelle Stücke zu spielen oder Klassiker neu zu interpretieren?
Der Markt erlaubt alles. Man muss nur an seinen Weg glauben und mit vielen Hindernissen kämpfen. Nicht jeder ist dazu bereit. Aber das war immer so. Ich war sicher nicht der Einzige, der immer die unbequemen Wege gesucht hat, aber es tut gut zu sehen, dass diese schwierige Entscheidung richtig war. Es ging mir immer darum, andere Komponisten oder Interpreten zu unterstützen und das hat sich bis heute nicht geändert. Es macht mir Spaß zu sehen, dass es auch heute ähnliche Musiker gibt, mit denen ich eine gemeinsame Sprache finde.

Zählt dazu zum Beispiel Clara-Jumi Kang, mit der Sie in Prag auftreten werden?
Sicher. Sie ist eines der Talente, die auf sich aufmerksam machen. Genauso könnte ich von den Cellisten Pablo Ferrández und Marie-Elisabeth Hecker, den Pianisten Lucas Debargue, Daniil Trifonow oder Yulianna Avdeeva schwärmen. Mit diesen Künstlern suche ich Kontakt und genieße die Zusammenarbeit.

Was verbinden Sie mit Prag, mit Tschechien oder mit Antonín Dvořák?
Wahrscheinlich den Begriff Romantik. Ich war und bleibe ein Romantiker und Prag ist für mich eine der romantischsten Städte der Welt.

Sie spielen bei Dvořákova Praha Werke von Schnittke, Piazzolla-Arrangements von Desjatnikow und Dvořáks Notturno H-Dur. Was wollen Sie vermitteln?
Um es auf einen Nenner zu bringen: wahrscheinlich Offenheit. Etwas, was mir seit der Studenten­zeit, der Zeit des Prager Frühlings und des Strebens nach Freiheit und Unabhängigkeit, immer wichtig war und blieb. Das wirkt sich auf meine Programme und auf alles aus, was ich mit meinem Orchester Kremerata Baltica verbinde.

Können Sie sich vorstellen, häufiger in Tschechien aufzutreten?
Das tue ich immer sehr gerne.Viele Konzerte in der damaligen Tschechoslowakei sind mir in Erinnerung geblieben. Es gibt inzwischen sogar CDs davon. Aber ich will nicht nur nostalgische Gefühle beschwören. Im Frühjahr komme ich mit Kremerata Baltica wieder nach Tschechien, dann können wir gemeinsam unsere Geburtstage – meinen 70. und den 20. des Ensembles – feiern.

Sie sind als Idealist unter den Musikern bekannt. In Tschechien wird nicht so viel Geld für Kultur bereitgestellt …
Geldverdienen war nie meine Priorität, aber ich trage eine Verantwortung für meine jungen Kollegen und ich wünsche der Kremerata, nicht nur den Alltag zu meistern und große Musik in die Welt zu tragen, sondern auch eine Zukunft. Wir sind ein Verein, der kaum Sponsoren anzieht, deshalb müssen auch wir genau kalkulieren, um zu überleben. Da ist man oft gezwungen, realistisch zu denken, auch wenn ein gewisser Idealismus nicht verloren gehen darf.

Die Fragen stellte Jan Nechanický.


Zur Person
Gidon Kremer fiel schon früh durch sein musikalisches Können auf. Aber auch politisch machte er auf sich aufmerksam. Als Student von David Oistrach wurde er Preisträger beim Königin-Elisabeth-Wettbewerb in Brüssel. Später gewann er den Paganini-Wettbewerb in Genua und den Tschaikowsky-Wettbewerb in Moskau. Im Jahr 1978 sorgte er für einen Skandal, als er einen zweijährigen Urlaub im Westen beantragte – und die sowjetische Parteiführung ihn genehmigte. Statt in die Sowjetunion zurückzukehren, ließ er sich anschließend in Westdeutschland nieder. Heute gilt er als prominenter Kritiker der russischen Regierung. In Berlin veranstaltete er vor drei Jahren ein Gedenkkonzert mit dem Titel „To Russia with Love“ für die ermordete Reporterin und Menschenrechtsaktivistin Anna Politkowskaja. In der musikalischen Welt gilt Kremer als unkonventioneller Interpret und Spezialist für aktuelle Kompositionen. In seinem Programm stehen Werke von Arvo Pärt, Alfred Schnittke, John Adams oder Peteris Vasks. Im Laufe seiner Karriere entwickelte er sich zu einer der prägendsten Gestalten der zeitgenössischen Klassik, die keine Angst vor Experimenten hat. So veröffentlichte er in den neunziger Jahren mehrere Alben mit Tangos von Astor Piazzolla. Zu seinem 50. Geburtstag gründete er ein Streichorchester namens „Kremerata Baltica“, in dem junge Musiker aus dem Baltikum spielen.   (jn)



Dvořákova Praha
Am 5. September eröffnet das Festival „Dvořákova Praha“ (Dvořáks Prag) die klassische Herbstsaison. Den Auftakt gibt die Sächsische Staatskapelle Dresden unter der Leitung von Christian Thielemann. Das Ensemble spielt Beethovens Konzert für Flöte und Orchester in D-Dur, Regers Variationen und Fuge nach einem Thema von Mozart sowie „Till Eulenspiegels lustige Streiche“ von Strauss. Zum neunten Festivaljahrgang werden herausragende Solisten erwartet, zum Beispiel die Violinisten Daniel Hope, Hilary Hahn und Gil Shaham sowie der russische Pianist Boris Berezovsky. Auf dem Programm stehen außerdem ein Konzert des London Symphony Orchestra, das am 8. September den tschechischen Cellisten Jiří Bárta begleitet. Gemeinsam werden sie Rachmaninows Sinfonie Nr. 2 in e-Moll interpretieren. Zudem wird das Residenzorchester des Festivals, die Tschechische Philharmonie, im Rahmen der Reihe „Dvořák Collection“ die symphonischen Dichtungen und Konzertouvertüren des Komponisten spielen. „Dvořákova Praha“ endet am 24. September mit einem Konzert des Orchestra dell’Accademia Nazionale di Santa Cecilia.

Informationen und Tickets unter www.dvorakovapraha.cz