Ein Leben im Rampenlicht
Porträt

Ein Leben im Rampenlicht

Bereits als Kind wusste Soňa Červená, dass sie auf die Bühne gehört. Auch mit 90 Jahren fühlt sie sich dort am wohlsten

8. 6. 2016 - Text: Franziska Neudert, Fotos: ČTK/Vít Šimánek und Občanské sdružení Mahler 2000

Jedes Gespräch sei für sie ein Stück Unsterblichkeit, sagt Soňa Červená. „Denn es ist eine Spur, die ich hier hinterlasse.“ Doch die Schauspielerin zu einem Gespräch zu treffen, ist gar nicht so einfach. Sie habe alles schon so oft erzählt, meint die 90-Jährige, immer wieder auf die gleichen Fragen geantwortet. In ihrem Alter sei ihr die Zeit dafür zu kostbar.

Nach mehreren Monaten klappt es endlich. Blumen lehnt Červená bereits im Voraus ab. „Wenn man Blumen abschneidet, müssen sie sterben.“ Sie öffnet die Tür zu ihrer Wohnung am Prager Rašín-Ufer. „Kommen Sie herein“, sagt sie mit einem Lächeln auf Deutsch. Prag und die Moldau müsse sie unbedingt vor ihrem Fenster haben, sagt Červená. „Das ist mein Hafen.“ Die Stadt bezeichnet sie heute als ihr Zuhause, jahrzehnte­lang waren es die Theaterhäuser der Welt. Sie ist zierlich, in ihren dunklen Augen glüht das Leben. Neben ihrem großen Bücherschrank scheint sie fast zu verschwinden, auf der Bühne ist sie hingegen nie zu übersehen.

Dorthin wollte Červená schon immer. Ihr Vater Jiří hatte im Jahr 1909 das Kabarett „Červená sedma“ gegründet. Nachdem es 1922 geschlossen wurde, trafen sich die Künstler immer wieder im Hause Červený, wo sie sangen und ihre literarischen Werke vortrugen. Die kleine Soňa hörte zu und dachte: „Das ist meine Welt.“ Die Leidenschaft zum Singen weckte ihr Kindermädchen, das sie oft in die Oper mitnahm. „Meine Eltern waren an den meisten Abenden nicht zuhause. Prag war damals ja eine Weltstadt, überall war etwas los, man ging auf Bälle und Feste. Da mich meine Erzieherin nicht allein lassen konnte, nahm sie mich einfach in die Oper mit. Und so entschloss ich, ohne zu wissen was Stimme oder Talent ist, dass ich einmal singen will.“

Die Rolle der „Carmen“ war es, die sie in den fünfziger Jahren auf der Bühne zum Star machte. „Das war meine Glanzpartie. Ich habe sie in drei Sprachen auf der ganzen Welt gesungen.“ Trotzdem blieb die „Carmen“ immer nur eine Rolle für sie. Mit ihren Figuren fühlt sie sich nicht verbunden. „In der Garderobe bin ich Soňa Červená, auf der Bühne bin ich Carmen. Meine privaten Gefühle – die Soňa – nehme ich nicht mit dorthin.“ Wer diese Soňa eigentlich ist, weiß sie nicht. „Das ist eine schwierige Frage, vielleicht eine Theaterdrogenabhängige“, lacht sie. „Auf der Bühne bin ich am glücklichsten, sie ist mein Zuhause.“ Einen eigenen Haushalt hatte Červena eigentlich nie. Auf ihren Reisen habe sie die Welt nur zwischen Hotel und Theater kennengelernt. Auch heute würde sie am liebsten in einem Fünf­sternehotel wohnen – „wenn es nur nicht so teuer wäre.“

Theater statt Familie
30 Jahre sang Červená in der Oper. Danach wechselte sie zum Schauspiel. Weil man mit 60 Jahren nicht mehr singen könne, wie sie erklärt. Dann lasse die Stimme nach. Der Abschied von der Oper fiel ihr nicht allzu schwer. „So ist eben die Natur, alles welkt einmal.“ Danach wollte sie ihren Lebensabend in Frankreich am Mittelmeer verbringen. Ihre 50 Kisten, wie sie schmunzelnd erzählt, hatte sie bereits dorthin geschafft, als sie 1987 ein Angebot vom Hamburger Thalia-Theater erhielt. Also brachte Červená ihr ganzes Hab und Gut nach Hamburg. „Und da begann meine dritte Karriere.“ Mit 65 Jahren. Wieder reiste Červená mit einem Ensemble um die Welt.

Aufhören oder eine Pause einlegen, stand für sie außer Frage. Ein Privatleben habe sie nie gehabt, den Gedanken an Familie schob sie immer beiseite. Denn Familie und Bühne könne man nicht unter einen Hut bringen, ist Červená überzeugt. „Ich sah meine Kolleginnen, die geheiratet hatten und Kinder bekamen. Erschöpft erschienen sie zur Vorstellung. Sie kamen ins Theater, um sich auszuruhen. Das geht nicht, man kann nicht beides haben.“

Červená an der Seite von James King in ihrer Paraderolle als „Carmen“ (1962).

Verheiratet war sie dennoch einmal, drei Jahre hielt die Ehe. Ihr Mann musste 1948 mit dem Machtantritt der Kommunisten das Land verlassen. Mitgehen wollte Červená nicht. Die Liebe zur Bühne war stärker. Damals war sie am Theater von Jiří Voskovec und Jan Werich in Prag engagiert und stieg allmählich zu einem Musical-Star auf. „Die Leute liebten mich und ich liebte das Publikum.“ Der entscheidende Grund, dass sie im Land blieb, war aber ihre Mutter. „Sie kam in einem sehr schlechten Zustand aus dem Konzentrations­lager zurück. Ich konnte sie nicht verlassen.“

Auch den Kommunisten war ihre Mutter später ein Dorn im Auge. In zweiter Ehe hatte sie einen sehr vermögenden Mann geheiratet. Er starb noch vor dem Einmarsch der Deutschen, sie wurde zu einer reichen Witwe. Das Eigentum wollten zuerst die Deutschen, deshalb brachten sie sie ins Konzentrationslager Ravensbrück. Danach beschlagnahmten die Kommunisten das Vermögen, verhörten und misshandelten sie – ihre Mutter überlebte das nicht.

Die schwerste Entscheidung
Im Jahr 1958 erhielt Červená ein Angebot der Deutschen Staatsoper. Zunächst pendelte sie zwei, drei Jahre zwischen Prag und Ost-Berlin. „Ein Nerven­krieg, denn ich brauchte jedes Mal eine Ausreisegenehmigung.“ Mit dem Mauerbau 1961 ahnte Červená, dass sie nie wieder würde ins Ausland reisen können. Zu dieser Zeit hatte sie bereits Anfragen aus San Francisco, auch Karajan wollte mit ihr zusammenarbeiten. „Deshalb ging ich durch den Checkpoint Charlie. Es war die schwerste Entscheidung meines Lebens.“ Um singen zu können, nahm sie in Kauf, ihre Heimat womöglich nie wiederzusehen.

In das Land der Täter zu gehen, die ihre Mutter interniert hatten, fiel ihr nicht schwer. „Ich kam 17 Jahre nach Kriegsende nach Deutschland. Das war kein Hitler-Deutschland mehr, es war ein anderes Land. Die Menschen haben mir sehr geholfen. Die Atmosphäre in der Oper war international, es gab kein Deutschtum.“

Zurück nach Prag kam Červená erst 1993. Weil sie die Moldau wiedersehen wollte, wie sie sagt. Bleiben wollte sie nicht, sondern sich nur umschauen und dann wieder nach Deutschland. „Die Stadt war heruntergewirtschaftet, all die schönen Häuser waren baufällig, es war schrecklich grau. Ich dachte, was mache ich hier bloß? Ich bin doch ein Fremdling. Aber dann traf ich wunderbare Menschen wieder, sah tolle Theateraufführungen.Das versöhnte mich und ich zog nach Prag zurück.“

Und endlich erfuhr sie die Anerkennung, nach der sie sich so lange gesehnt hatte. Aus ideologischen Gründen durfte Červená – weil sie nicht aus einer Arbeiter­familie, sondern aus gutbürgerlichem Hause stammte – nie im Nationaltheater auftreten. „Das hat mich damals sehr unglücklich gemacht.“ Und dann kam ausgerechnet der Regisseur Robert Wilson, mit dem sie während ihrer Emigration öfter zusammengearbeitet hatte, um in Prag die Janáček-Oper „Osud“ zu inszenieren. Červená sollte die Rolle des Schicksals übernehmen. „Ein amerikanischer Regisseur brachte mich erstmals auf die Bühne meines Nationaltheaters. Das kann man auch Schicksal nennen.“

Kafka neu entdeckt
Heute genießt Červená jeden einzelnen Tag. „Natürlich denke ich oft an den Tod, mit 90 Jahren!“ Angst vorm Sterben habe sie jedoch nicht. „Ich glaube, das ist eine der wenigen Gerechtigkeiten. Man kommt ja auf die Welt, um einmal zu sterben.“

Sich selbst bezeichnet Červená als Einzelgängerin. „Wenn Sie wüssten, wie selig ich allein bin! Meine ganze Kraft – und ich habe viel Kraft – schöpfe ich aus meiner Einsamkeit.“ Geschwätzige Menschen oder lange Telefon­gespräche machen sie wahnsinnig. „Es ist schade um die wunderbare Einsamkeit.“

Ihre Freizeit verbringt Červená am liebsten mit Büchern. Was sie gern liest? „Komischerweise“, wie sie sagt, habe sie es sehr oft und „sehr ehrlich“ mit Franz Kafka versucht. An seine Bücher sei sie trotzdem nicht herangekommen. „Ich habe ihn einfach nicht verstanden, wusste nicht, was er meint.“ Bis vor kurzem. Da fiel ihr ein Erzählband von Kafka in die Hände, der sie sehr beeindruckte. Nun will sie sein ganzes Werk lesen. „Ich hatte bis jetzt nicht gewusst, dass man bei Kafka zwischen den Zeilen lesen muss!“ Neben vielen anderen Bänden steht in ihrem Bücherschrank auch einer von Loriot. „Wunderbar!“ Erst vor ein paar Monaten stand Červená in Hradec Králové mit Loriots „Karneval der Tiere“ auf der Bühne. Im kommenden Jahr soll sie damit in Prag auftreten. Vor ein paar Wochen war sie noch in Wilsons „1914“ im Stände­theater und in der politischen Oper „Toufar“ in der Neuen Bühne zu sehen. Unzählige Male verkörperte sie in den beiden Stücken dieselbe Figur. Geht da nicht irgendwann einmal der Reiz verloren? „Im Gegenteil, es wird immer schöner. Und tiefer.“

Wenn Červená gerade nicht liest, dann ordnet sie zuhause ihre Sachen. Sie sei eine typische Jungfrau, „unmöglich ordnungsliebend“. „Und ich will eine gute, saubere Spur hinterlassen.“

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