Als Blumen die Apokalypse ankündigten

Als Blumen die Apokalypse ankündigten

Der Lidice-Roman „Die Toten schauen zu“ von Gerald Kersh ist erstmals in deutscher Übersetzung erschienen

1. 6. 2016 - Text: Helge HommersText: Helge Hommers; Fotos: Michal Ritter/CC BY SA 3.0 und Richard Bloom

 

Während das Dorf Dudicka mit Artilleriebeschuss und Fliegerbomben dem Erdboden gleichgemacht wird, fliehen Max und Anna in den Wald. Als die frisch Verliebten kurz verschnaufen und sich im Dickicht verstecken, sagt Anna: „Wenn man tot ist, wird man begraben und die Seele kommt in den Himmel oder die Hölle. Hier kann man dann nichts mehr machen. Und das ist es, was sie wollen. Aber solange man lebt und seine Seele hat, gibt es immer die Möglichkeit, etwas zu tun.“

Sie, das sind Einheiten der Gestapo, die den Tod eines SS-Obergruppenführers rächen. Ein unerkannter Motorradfahrer hat ihn im Protektorat Böhmen und Mähren erschossen. Die Spuren führen nach Dudicka, wo ein herrenloses Motorrad entdeckt wird  – das Todesurteil für das kleine Dorf. Die Männer werden ermordet, die Frauen in Konzentrationslager deportiert und die Kinder in deutsche Erziehungsheime gebracht.

Die Parallelen zwischen dem Schicksal des fiktiven Dudicka und den Geschehnissen des 9. Juni 1942, als das 20 Kilometer von Prag entfernte Lidice von deutschen Ordnungspolizisten zerstört wurde, sind kein Zufall. Der britische Autor Gerald Kersh schrieb „Die Toten schauen zu“ nur wenige Monate nach dem grausamen Verbrechen an den etwa 500 ahnungslosen Einwohnern des willkürlich ausgewählten Dorfes. Der Roman erschien bereits 1943. Nun liegt er erstmals in deutscher Übersetzung vor.

Der 1911 als Sohn einer jüdischen Familie in London geborene Kersh war in den vierziger Jahren Bestsellerautor von Kriminalgeschichten. Im Zweiten Weltkrieg wurde er schwer verwundet; nach der Kapitulation Deutschlands suchte er in Frankreich nach seinen Verwandten. Nur wenige von ihnen hatten jedoch die Konzentrationslager überlebt. Kersh starb 1968 krank und verschuldet in New York. Seine Werk geriet bald darauf in Vergessenheit und wurde erst in den vergangenen Jahren vom Publikum wiederentdeckt.

Gerald Kersh

In den 21 Kapiteln von „Die ­Toten schauen zu“ entwirft Kersh seine Vorstellung der Geschehnisse, die als Vergeltungsaktion auf das Attentat auf den stellvertretenden Reichsprotektor Reinhard Heydrich folgten. Auf den ersten Seiten des Romans lässt Kersh seinen Heydrich, der den Namen Bertsch trägt, ausführlich und in präzisem Bürokratendeutsch seine menschenverachtende Ideologie erläutern. Kurz darauf ist Bertsch tot und SS-Offizier Heinz Horner tritt auf. Dieser erinnert an Heinrich Himmler und wird von Kersh als „Kreuzung aus einem Fließband und Satan“ beschrieben.

Während Horner seinen tödlichen Plan schmiedet, ahnt bei Tagesanbruch in Dudicka noch niemand, welches Unheil sich anbahnt. Kersh rückt nicht nur eine, sondern mehrere Figuren in den erzählerischen Fokus. Es gibt den Lehrer, den Bürgermeister, den Glasbläser, den Studenten, den Kaufmann und die Hebamme. Sie alle stehen für einen Typus, der sich in jeder noch so kleinen Gesellschaft findet. Sie haben Pläne und Wünsche, Fehler und Geheimnisse.

Max und Anna, als adoptierte Geschwister unter einem Dach aufgewachsen, gestehen sich an jenem Morgen ihre Liebe. Die Szene überschreitet beinahe die Grenze zum Kitsch und findet ihren Höhepunkt, als es Blüten zu regnen scheint – diese entpuppen sich jedoch als Fallschirmspringer, die wie Vorboten der Apokalypse vom Himmel herabschweben.

So schön und bildgewaltig die Metamorphose ist, so brutal erweist sich das folgende Geschehen. Bei seiner Ankunft und einem Blick auf seine Taschenuhr sagt Horner: „Ich sehe keinen Grund, dass wir heute Abend nicht fertig sein sollten.“ Er ist eine vollkommen rationale Person und unfähig, Empathie zu empfinden. So schreckt er auch nicht davor zurück, einen der wenigen Täter, der so etwas wie Mitgefühl zeigt, aus dem Weg zu räumen.

Horner mordet – oder vielmehr, lässt morden – aber nicht aus Freude am Töten. Er vernichtet Existenzen, weil seine Weltanschauung ihn dazu zwingt. Er ist skrupelloser Massenmörder, der seine Opfer ohne mit der Wimper zu zucken umbringen lässt, und zugleich Schreibtischtäter, der nie selbst Hand anlegt – eine vollkommene Manifestation des Bösen.

Auch die Einwohner Dudickas ahnen langsam, dass die SS-Einheiten aus einem bestimmten Grund zu ihnen gekommen sind. Dass das verlassene Motorrad doch nicht dem Attentäter gehört, ändert nichts an ihrem Schicksal. Während alle männlichen Einwohner ihr eigenes Grab schaufeln, plündern deren Mörder das Dorf. Sie nehmen selbst Türscharniere mit, aus denen Patronen hergestellt werden können, damit das Töten weitergeht. Schließlich sagt Marek, der Lehrer: „Auch Saatkörner werden in die Erde geworfen, wenn ihre Zeit gekommen ist. Aber dann stellt sich eine neue Jahreszeit ein und sie treten wieder an die Oberfläche. Habt Mut, denn das ist nicht das Ende! Unsere Toten schauen zu, meine Brüder, unsere Toten schauen zu!“

Max und Anna, die angesichts der traumatischen Erlebnisse am Sinn des Weiterlebens zweifeln, entscheiden sich gegen den Tod. Doch Horner hat für alle Eventualitäten vorgesorgt. Nichts und niemand soll an Dudicka erinnern. Weder seine Gebäude, seine Walnussbäume noch seine Bewohner. Und so ist niemandem ein glückliches Ende beschienen. Auch den Tätern nicht.

Gerald Kersh: Die Toten schauen zu. Aus dem Englischen von Ango Laina und Angelika Müller. Pulp Master, Berlin 2016, 227 Seiten, 12,80 Euro, ISBN 978-3-927734-74-6