„Deutsch funktioniert oft als Türöffner“

Publizist Radim Kopáč über die Chancen tschechischer Literatur im Ausland

2. 3. 2016 - Text: Maria SilenyInterview: Maria Sileny; Foto: privat

Radim Kopáč hat Journalistik und Medientheorie studiert. Nachdem er als Redakteur für verschiedene Literaturzeitschriften und den Tschechischen Rundfunk gearbeitet hat, ist er seit 2010 im Kulturministerium für die Vermittlung tschechischer Literatur ins Ausland zuständig. Der 40-Jährige hat etliche Bücher herausgegeben, zuletzt „Nevěstince a nevěstky“ („Bordelle und Huren“). Mit PZ-Mitarbeiterin Maria Sileny sprach Kopáč über Neuerscheinungen, populäre Schriftsteller und andere Blickwinkel.

Wie viele tschechische Titel werden jährlich im Ausland verlegt? Und in welchen Ländern ist das Interesse am größten?
Radim Kopáč: Jährlich werden 180 bis 200 tschechische Titel übersetzt und veröffentlicht. Das ist aber nur eine Schätzung, bislang gibt es kein vollständiges Verzeichnis. Was das Interesse betrifft, kann ich nur beurteilen, was jährlich über meinen Tisch geht. Als das tschechische Kulturministerium 1998 ein Subventionsprogramm für Übersetzungen ins Leben rief, haben nur zehn ausländische Verleger die Zuwendung beantragt. Für dieses Jahr kamen 145 Anträge zusammen. Das größte Interesse, insbesondere für die neue tschechische Literatur, die nach 1989 entstanden ist, besteht in Ländern, die uns geographisch, historisch und sprachlich nahestehen, das heißt vor allem in Polen und in Deutschland. Eine starke Bohemistik gibt es ansonsten in Bulgarien. Dank dem Literaturagenten Edgar de Bruin besteht auch ein anhaltendes Interesse in den Niederlanden.

Also kommen tschechische Schriftsteller in deutschsprachigen Ländern gut an?
Was die Anzahl der Übersetzungen betrifft, steht Deutsch an erster Stelle unter den Weltsprachen. Deutsch funktioniert häufig auch als Türöffner zu Übersetzungen in weitere Sprachen. Während der sogenannten Normalisierung Ende der sechziger bis Ende der achtziger Jahre wurden etwa 600 tschechische Titel in deutscher Übersetzung publiziert – häufig als solidarische Geste der deutschen, der Schweizer und der österreichischen Verleger. Das hat etwa 30 Titel im Jahr ausgemacht. Nachdem sich die politischen Umstände verändert haben, ist diese Unterstützung zwar zurückgegangen, doch ein gewisses Interesse hält an. Ein Beispiel dafür ist die „Tschechische Bibliothek“ des Münchner DVA Verlags, in der zwischen 1999 und 2007 mehr als 30 Bände zur tschechischen Literatur erschienen sind. Derzeit sind zum Beispiel Radka Denemarková und Jaroslav Rudiš in Deutschland erfolgreich.

Wie begründen Sie den Erfolg von Denemarková und Rudiš in Deutschland?
Beide Autoren sprechen fließend Deutsch und sind auf dem deutschsprachigen Gebiet wie zuhause. Sie schreiben für deutsche Zeitungen und Zeitschriften, nehmen an Diskussionen teil, veranstalten Lesungen, halten Vorträge an Universitäten. Die persönliche Anwesenheit des Autors ist für die Wahrnehmung seines Werkes vor Ort ungeheuer wichtig. Die beiden schreiben außerdem Bücher, die auf allgemeines Interesse stoßen. Grob vereinfacht: Belletristik, die sich mit der jüngsten deutsch-tschechischen Geschichte auseinandersetzt, so Denemarkovás „Ein herrlicher Flecken Erde“ oder Rudišs „Alois Nebel“.

Welche anderen tschechischen Schriftsteller hätten ein ähnliches Potenzial?
In Tschechien erscheinen jährlich 15 bis 20 Titel, die übernationales Potenzial besitzen. Das sind vor allem belle­tristische Werke, aber auch Lyrik, Essays und Sachbücher. Allerdings haben nicht alle Autoren einen fleißigen Agenten, der sie im Ausland vertritt. In manchen Ländern, wie zum Beispiel in Bulgarien, leisten die Bohemisten diese Arbeit. Sie lesen viel, wählen aus und empfehlen. Ähnlich machen das manche Mitarbeiter der Tschechischen Zentren. Meiner Meinung nach könnten sich deutsche Leser zum Beispiel für die Titel „Průvodce protektorátní Prahou“ („Begleiter durch das Prag des Protektorats“) und „Krvavé finale“ („Das blutige Finale“) von Jiří Padevět interessieren, die Fakten zum Zweiten Weltkrieg veranschaulichen. Man wird sicher von Kateřina Tučkovás Roman „Das Vermächtnis der Göttinnen“ hören, der letztes Jahr bei DVA erschien. Internationales Interesse würden auch Michal Ajvaz, Jan Balabán, Tereza Boučková, Eugen Brikcius, Irena Dousková, Jiří Hájíček, Iva Pekárková, Roman Ráž, Petra Soukupová und Petr Stančík verdienen.

Auf welche neuen Titel aus Tschechien können sich deutsche Leser in diesem Jahr freuen?
Vor kurzem ist „Das Jahr des Hahns“ von Tereza Boučková in Deutschland erschienen, „Die Deutschen“ von Jakuba Katalpa, Jiří Kratochvíls „Gute Nacht, süße Träume“, Ferdinand Peroutkas „Wolke und Walzer“, Karel Čapeks „Gedichte aus dem Konzentrationslager“ oder „Nationalstraße“ von Jaroslav Rudiš. Soweit ich weiß, sollen demnächst ein Comic von Jan Novák und Jaromír 99 über den Läufer Emil Zátopek sowie der Roman „Tsunami blues“ von Markéta Pilátová herauskommen, weiterhin eine Auswahl von Jaroslav Hašeks Erzählungen und Jiří Mahens „Der Monat“.

Wie kann tschechische Literatur die Leser im Ausland bereichern?
Ich mache mir keine Illusionen, dass Literatur etwas verändern, das Leben von jemandem verbessern oder globale Probleme lösen könnte. Die tschechische Literatur ist zudem klein und ihre Geschichte recht zerrissen. Doch allgemein betrachtet, kann sie das Grundlegendste aufzeigen – einen anderen Blickwinkel.

Wer war im letzten Jahrzehnt der erfolgreichste tschechische Autor im Ausland? Und wie werten Sie sein Werk?
Wenn ich nach der Anzahl der Sprachen gehen sollte, in die sein Werk übertragen wurde, dann ist es Patrik Ouředník. Sein „Europeana. Eine kurze Geschichte Europas im 20. Jahrhundert“ kann man bereits in 30 Sprachen lesen. Auch wenn Ouředník freilich den Ruhm eines Hrabals, Kunderas oder Hašeks bislang nicht erreicht hat. Sein Werk werte ich eindeutig positiv. Für mich ist es eine Ausnahmeerscheinung tschechischer Literatur nach dem Jahr 1989. Vielleicht hängt der Erfolg auch damit zusammen, dass der Autor in Frankreich lebt. Ich empfehle aber  nicht nur seinen Roman „Europeana“, der auf Deutsch leider nur noch antiquarisch zu bekommen ist, sondern auch den Titel „Die Gunst der Stunde, 1855“, der vom Zusammenbruch einer Utopie erzählt. Deutsche Leser würden sicher auch Ouředníks überaus witzigen, paraphysischen Kriminalroman „Ad acta“ schätzen. Um das Gender-Gleichgewicht zu wahren, will ich Kateřina Tučková hinzufügen, die sich mit ihrem Roman „Das Vermächtnis der Göttinnen“ eindeutig in Richtung internationaler Bestseller bewegt.