So politisch kann Wetter sein

So politisch kann Wetter sein

70 Jahre nach der Befreiung Buchenwalds erscheint der Roman „Wolke und Walzer“ des Publizisten und ehemaligen KZ-Häftlings Ferdinand Peroutka erstmals in deutscher Übersetzung

7. 10. 2015 - Text: Volker StrebelText: Volker Strebel; Foto: Ferdinand Peroutka/APZ

Über Jahrzehnte hinweg verkörperte der im New Yorker Exil lebende Schriftsteller Ferdinand Peroutka (1895–1978) das tschechische Gewissen eines demokratischen Journalismus. Bereits in den zwanziger und dreißiger Jahren hatte Peroutka in Prag als Publizist für verschiedene Zeitungen gearbeitet. Nach der Errichtung des Protektorats Böhmen und Mähren wurde er von der deutschen Besatzung verhaftet und für sechs Jahre in die Konzentrationslager Dachau und Buchenwald deportiert. Nach dem kommunistischen Putsch flüchtete Peroutka 1948 in den Westen, wo er die tschechische Abteilung des Senders Radio Free Europa mit aufbaute.

Dem vorliegenden Roman „Wolke und Walzer“ ist ein Prolog vorangestellt, der in ausdrucksstarken Bildern Szenen aus einem Wiener Obdachlosenmilieu entfaltet. Von einem gewissen Adolf Hitler ist da kurz die Rede. Und dann beginnt der eigentliche Roman. Im feinen Prager Restaurant „Baroque“ trifft sich eine distinguierte Gesellschaft wieder einmal zum Bridge-Abend, während draußen ein Unwetter tobt. So politisch kann Wetter sein, denn schließlich unterhält sich die elegante Gästerunde über die Geschehnisse in Europa. So habe eine junge Französin ein Telegramm aus Paris erhalten, unverzüglich nach Hause zu kommen und ein hoher Beamter aus dem Prager Außenministerium sei ungewöhnlich aufgeregt gewesen. Gemeinsam rätseln sie, was Hitler wohl im Schilde führt.

Die Personen dieser vertrauten Versammlung wie Dr. Pokorný und seine Frau, sowie die Bankbeamten Nowotný und Kraus ahnen nicht, dass sie sich bereits unweigerlich im Strudel der Geschichte befinden. Der ganz normale Alltag wirkt dennoch niederschmetternd, denn Schritt für Schritt wirkt die ideologische Vergiftung. Es folgen geradezu lakonisch der Einmarsch der Deutschen Wehrmacht und die Ausrufung des Protektorats Böhmen und Mähren. Und obwohl sich die politischen Verhältnisse im ganzen Land grundlegend geändert haben, scheint im Alltag alles zu bleiben, wie es war. Niemand regt sich wirklich auf und auch die Opfer ergeben sich ohne besondere Verwunderung ihrem Schicksal. Geradezu unheimlich liest sich etwa die unbeteiligte Schilderung, wie aus dem ehrenwerten Bankbeamten Nowotný ein KZ-Häftling wird.

Erschütternde Impressionen
Es ist erschreckend, wie unterschiedlich Menschen auf den nationalsozialistischen Terror reagieren. Die einen verwandeln sich in Denunzianten, die anderen in gequälte Kreaturen. Die Verhältnisse in einem Konzentrationslager wiederum sind derart, dass arbeitsscheue Nichtsnutze die Macht erhalten, andere zu erniedrigen. Bereits in einem völlig lächerlichen Kult des vorgeschriebenen Grüßens wurde gegenüber den Häftlingen willkürliche Gewalt ausgeübt: „Ein am Straßenrand stehender SS-Mann zog an seiner Zigarette und begutachtete, wie sie marschierten. Sie grüßten, rissen die Mützen vom Kopf und pressten sie an die Hüften“.

Der Roman „Wolke und Walzer“ entfaltet, nicht zuletzt durch ständig wechselnde Perspektiven, einen atmosphärisch dichten Blick auf jene Schreckensjahre während des Zweiten Weltkriegs. Neben erschütternden Impressionen aus dem Alltag eines deutschen Konzentrationslagers richtet Peroutka seinen Fokus auch auf jene, die im zivilen Leben verblieben sind.

Schritt für Schritt rückt schließlich das Ende des Kriegs näher. Und nach dem Niedergang der Berliner Reichskanzlei und Hitlers erbärmlichem Ende weicht der Roman dem entfachten Mob in Prag ebenso wenig aus, wie Streitigkeiten vor allem unter politisch fanatisierten KZ-Häftlingen.

Statt eines Nachwortes sind in der vorliegenden Ausgabe Auszüge aus Peroutkas Tagebuch vom April und Mai 1945 abgedruckt – erste schriftliche Versuche, einen langjährigen Leidensweg zu verarbeiten. Den Roman „Wolke und Walzer“ hatte Peroutka, bereits hochbetagt, im Exil veröffentlicht, wobei er auf sein gleichnamiges Theaterstück zurückgreifen konnte, das unmittelbar nach dem Krieg in Prag aufgeführt worden war. Insofern stellt dieser Roman auch eine Art Vermächtnis dar, denn die schrecklichen Jahre im Konzentrationslager, aber auch die Wucht totalitärer Gewalt hatten Peroutka sein Leben lang beschäftigt.

Ein Vierteljahrhundert nach dem Zerfall des „real existierenden Sozialismus“ geriet Ferdinand Peroutka in seiner tschechischen Heimat unfreiwillig in das Rampenlicht der Presse. Staatspräsident Miloš Zeman hatte Peroutka anläßlich einer Rede als Beispiel des intellektuellen Versagens seitens der Tschechen gegenüber dem Nationalsozialismus angeführt. Ein Skandal! Zumal Zeman die Beweise trotz ausdrücklicher Ankündigung schuldig blieb.

Auf zynische Weise bildet dieser ungeheuerliche Vorgang ab, was sich seit längerer Zeit in Tschechien wie auch in anderen ehemaligen sozialistischen Ländern beobachten lässt. Diejenigen, die mehr oder weniger kritiklos nicht nur an den Maikundgebungen mitmarschierten, richten heute über jene, die in Zeiten der Totalität unbequem waren und Mut bewiesen hatten.

In gewisser Hinsicht bestätigt sich somit das intellektuelle Vermächtnis von Ferdinand Peroutka und unterstreicht dessen ungebrochene Aktualität. Es geht um die unzensierte Wahrnehmung und das freie Wort, das die Bedrohungen unseres Zusammenlebens zu benennen vermag.

Ferdinand Peroutka: Wolke und Walzer. Aus dem Tschechischen von Mira Sonnenschein, Elfenbein Verlag, Berlin 2015, 375 Seiten, 22 Euro, ISBN 978-3-941184-32-9