„Was habe ich mit den Juden gemeinsam?“

„Was habe ich mit den Juden gemeinsam?“

Anfang des 20. Jahrhunderts wirkte eine jiddische Theatergruppe aus Lemberg in Prag. Ihr religiöser und künstlerischer Einfluss auf den jungen Franz Kafka blieb der breiten Öffentlichkeit weitgehend unbekannt

13. 8. 2015 - Text: Sophie KohoutekText: Sophie Kohoutek; Bild: Jizchak Löwy, nach einer Zeichnung von Felix Friedmann

Wenn man Franz Kafka klar einordnen will, scheitert man auf fast allen Ebenen. So schwierig es ist, seine Werke einer bestimmten Literaturepoche zuzuschreiben, so wenig kann man ihn eindeutig einer Nationalität oder Ethnie zuordnen. Ist er Jude, Tscheche oder Deutscher gewesen? Diese Frage stellt sich die Kafka-Forschung unaufhörlich. Wahrscheinlich war sie für den Literaten selbst ebenso schwierig zu beantworten.

Kafka fand sich um das Jahr 1900 im Strudel des Nationalitätenkonflikts und religiöser Ressentiments wieder. Die jüdische Bevölkerung bewegte sich zwischen Assimilation und Zionismus, zwischen Anpassung und Abgrenzung. Dass Kafka seiner Religion eher fern als nahestand, ist den meisten bekannt. Sporadische Synagogenbesuche ließ er nur aus Gewohnheit und Zwang über sich ergehen und fand sie eher unangenehm als erfüllend. „Was habe ich mit den Juden gemeinsam?“, stellt sich Kafka in seinem Tagebuch die Frage. „Ich habe kaum etwas mit mir gemeinsam.“ Doch im Laufe der Jahre näherte sich Kafka immer mehr dem Judentum. Kurz vor seinem Tod lernte er eifrig Hebräisch mit dem Vorhaben, nach Palästina auszuwandern. Wenige wissen, dass ihm eine Amateur-Theatergruppe aus Polen den ersten Anstoß dazu gab.

In Europa um die Jahrhundertwende unterschied man zwischen Ost- und Westjudentum. Diese Bezeichnungen wurden damals vom österreichischen Publizisten, Schriftsteller und Zionisten Nathan Birnbaum geprägt, der damit die sozialen Unterschiede innerhalb des europäischen Judentums beschreiben wollte. Während zum Beispiel die städtisch geprägten Juden Prags laut dem Schweizer Literaturwissenschaftler Andreas Kilcher als „Apologeten der deutschen Kultur und als gemeinschafts-, traditions- und zukunftsloses, selbstvergessenes Judentum galten“, wurden die Ostjuden (alle ländlichen jüdischen Gruppen Osteuropas und Russlands) als Musterbeispiel für ein ursprüngliches und lebendiges Judentum angesehen. Anfang des 20. Jahrhunderts, vor allem aber nach dem Ersten Weltkrieg, flohen viele Ostjuden in westlicher gelegene Städte wie Berlin oder Prag.

Faszinierende Begegnung
In den zionistischen Kreisen in Kafkas Umfeld sprach sich im Jahr 1911 herum, dass eine ostjüdische Theatergruppe aus Lemberg im Café Savoy und Hotel Central auftrat. Zwischen September 1911 und Januar 1912 hielt sich die polnische Truppe unter der Leitung des Schauspielers Jizchak Löwy in Prag auf. Am 5. Oktober 1911 besuchte Kafka erstmals eine Vorstellung des jiddischen Ensembles, das an diesem Abend „Der Abtrünnige“ („Meshumed“) von Abraham Scharkanski aufführte. Seinen Eindrücken aus dem Café Savoy widmete der Autor gleich mehrere Seiten in seinem Tagebuch. Er war begeistert von den Lembergern und ließ sich von ihrer mitreißenden musikalischen Darbietung in den Bann ziehen. Allerdings vermerkt er in seinen Aufzeichnungen, dass die Inszenierung unter dem geringen Personal und ungenauem Einstudieren leide. Laufend sollen schauspielerische und technische Patzer passiert sein, die Mimik ähnelte „Grimassen“, wie Kafka notierte.

Der damals 28-jährige Kafka war dennoch fasziniert von den Ostjuden. „Leute, die in einer besonders reinen Form Juden sind, weil sie nur in der Religion aber ohne Mühe, Verständnis und Jammer in ihr leben“, so Kafka in seinem Tagebuch. Die Mitglieder der Lemberger Gruppe sprachen ohne Scheu Jiddisch, was unter den Westjuden Prags verpönt war. Die Zionisten ernannten das Hebräische zu ihrer Nationalsprache, während sie das Jiddische ablehnten. Jiddisch wurde oft nur den sogenannten „Tschechojuden“ vom Lande zugesprochen. Doch Kafka war von der Authentizität der Ostjuden berauscht. Zwischen ihm und Jizchak Löwy entwickelte sich eine Freundschaft, die für ihn unentbehrlich wurde. Erstmals fühlte sich der junge Prokurist, der zu diesem Zeitpunkt bereits seit drei Jahren bei der Arbeiter-Unfallversicherung angestellt war, zu seiner Religion hingezogen und studierte seitdem fleißig die jüdische Geschichte und Kabbala, in die ihn Löwy einführte. Dieser fungierte auch als Vermittler zu den anderen Schauspielern, insbesondere Mania Tschissik, in die sich Kafka verliebte.

Leidenschaft für das Theater
Die Lemberger Gruppe ging aus der jungen Tradition einer neuen Theaterform hervor. Zwischen musikalischen Einlagen wurden Dialoge, Monologe und Pantomime eingeschoben. Ein erstes Theaterensemble dieser Art wurde Mitte der siebziger Jahre des 19. Jahrhunderts ins Leben gerufen, 1876 wurden im heutigen Moldawien erstmals Vorstellungen in jiddischer Sprache aufgeführt. Das jüdische Theater gewann an Popularität und wurde in seiner Entwicklung schließlich von dem Verbot gehemmt, das in den russischen Provinzen (und dazu gehörte das moldawische Bessarabien) Aufführungen auf Jiddisch untersagte. Ab 1883 war das Theater in den polnischen und russischen Gebieten nahezu illegal, was dazu führte, dass viele jüdische Theatermacher auswanderten.

So geschah es auch im Fall der Gruppe um Löwy, die in das österreichisch-deutsche Gebiet reiste. Das Ensemble stellte sich seinem Prager Publikum als „Original-jüdische Gesellschaft aus Lemberg“ vor und bestand aus etwa acht Schauspielern, darunter Löwy selbst sowie das Ehepaar Tschissik. Die Auftritte fanden in engen Räumen zwischen den gedeckten Tischen der Restaurants statt, wo beliebte Stücke wie Goldfadens „Bar Kochba“ oder Scharkanskis Operette „Der vitse-kenig“ gespielt wurden. Der künstlerische Leiter Löwy trat überdies mit Lesungen auf, denen Kafka oft beiwohnte. Der aus Warschau stammende Schauspieler war vier Jahre jünger als sein Prager Freund und begeisterte sich schon als Kind für das Theater, wie aus Kafkas Fragment aus dem Nachlass „Über das Jüdische Theater“ hervorgeht. Darin lässt er Löwy dessen Weg zur Schauspielerei erzählen. Er wuchs in einem streng chassidischen Elternhaus auf, das seinen Hang zum „sündhaften“ Theater ablehnte. Nachdem er zum ersten Mal das jüdische Theater in Warschau besuchte, verschrieb sich Löwy der Kunst und reiste mit Theatergruppen durch Europa.

Auflehnung gegen den Vater
Kafkas Begeisterung für das Theater der Ostjuden, die auch sein Freund Max Brod teilte, ist laut dem italienischen Germanisten Guido Massino als eine Protesthandlung gegenüber dem zionistischen Akademismus zu verstehen. In seinem Buch „Kafka, Löwy und das jiddische Theater“ beleuchtet Massino detailliert die Geschichte der Theatergruppe, Löwys und dessen Einfluss auf Kafkas Texte.

Doch die Theaterbesuche des jungen Literaten waren nicht nur als Akt der Ablehnung gegenüber zionistischen Kreisen zu verstehen: Die Freundschaft mit dem Schauspieler Löwy war auch eine Auflehnung dem angepassten Vater gegenüber. Er nahm den Polen mit in sein Elternhaus und lud ihn zum Entsetzen seines Vaters zum Abendessen ein. Die Erinnerung daran beschreibt Kafka im „Brief an den Vater“: „Ohne ihn zu kennen, verglichst Du ihn in einer schrecklichen Weise, die ich schon vergessen habe, mit Ungeziefer, und wie so oft für Leute, die mir lieb waren, hattest Du automatisch das Sprichwort von den Hunden und Flöhen bei der Hand.“

Doch durch derartige Tiraden ließ er sich nicht von seiner Begeisterung für Löwy und seine Mitstreiter abbringen, die so weit reichte, dass Kafka sogar einen jüdischen Kulturabend organisierte, um sie zu unterstützen. Im Zuge dessen hielt der sonst so zurückhaltende Kafka eine „Rede über die jiddische Sprache“, in der er sich intensiv für deren Anerkennung in Prag einsetzte.

1917 sahen sich Löwy und Kafka vermutlich das letzte Mal. Ihre Freundschaft hielten sie mit Briefen aufrecht, die Kafkas Werk stark beeinflussten. Dies reicht von thematischen Ähnlichkeiten zwischen den inszenierten Stücken des jüdischen Theaters und einigen seiner Texte bis hin zur bildhaften Gestik von Kafkas Figuren, die mit ihrer grotesken Affektiertheit an die expressive Spielweise des jiddischen Theaters erinnern. Die Begegnung mit Löwy und seiner Kunst bedeutete für Kafka außerdem nicht nur die Entdeckung seiner Religion, sondern auch die Befreiung seiner Identität als Prager Jude, nämlich von seiner Vorstellung der „westjüdischste“ unter den Westjuden zu sein.