„Medien zeigen nur schlanke weiße Frauen“

„Medien zeigen nur schlanke weiße Frauen“

Jeden Tag ein nackter Mensch: Der tschechische Künstler Martin Pavel über sein Projekt „Daily Portrait Berlin“

29. 7. 2015 - Text: Isabelle DanielInterview: Isabelle Daniel; Foto: Daily Portrait Berlin

Nackt und in den eigenen vier Wänden: So bildet der tschechische Multimedia-Künstler Martin Pavel an jedem Tag dieses Jahres eine Berlinerin oder einen Berliner ab. Mit seinem Kunstprojekt „Daily Portrait Berlin“ will er die vorherrschenden Schönheitsideale aufbrechen und den Menschen losgelöst von den sozialen Kategorien zeigen, denen er im Alltag zugeordnet wird. Mit PZ-Autorin Isabelle Daniel führte der 27-Jährige ein Gespräch über Fremdheit und Intimität.

In der vierten Auflage Ihres Projekts „Daily Portrait” (DP) bilden Sie an jedem Tag des Jahres 2015 eine Berlinerin oder einen Berliner ab – nackt und im Zuhause des Modells. Wie kam diese Idee zustande?

Martin Pavel: Ich habe das DP-Projekt 2012 begonnen. Damals habe ich 365 Menschen in mein Studio in Prag eingeladen und mit meiner Spiegelreflexkamera Videobilder von den Modellen vor einer weißen Wand gedreht. Im darauffolgenden Jahr habe ich 365 weitere Menschen fotografiert – in Prag auf der Straße, diesmal mit einer Polaroid-Kamera. Im Sommer 2013 lud mich der in Berlin lebende tschechische Fotograf Marek Kučera nach Potsdam ein und schlug mir vor, das nächste DP in Berlin zu machen. Außerdem wollte Marek, dass ich Fotos von ihm mache. Dafür bot er mir an, dass ich bei ihm wohnen könne. Bis dahin kannten wir uns überhaupt nicht, wir waren absolut Fremde. In dieser Zeit habe ich 16 wunderbare Menschen in Berlin und Potsdam in ihren Wohnungen fotografiert. Ich hatte das Gefühl, ein großartiges Projekt zu machen. Doch dann kam ich nach einem Monat zurück nach Prag, entwickelte die Filme – und stellte fest, dass die Fotos überhaupt nicht funktionierten. Irgendwas fehlte in dem Kunstprojekt. Ich habe ein Jahr damit verbracht, über das gescheiterte DP Berlin nachzudenken. Währenddessen arbeitete ich am dritten DP, bei dem ich aufgezeichnete Videos von tausenden Menschen in der Prager Metro mit einer in eine Sonnenbrille eingelassenen Kamera dokumentierte. Anfang 2015 habe ich meine Kamera dann in einer Prager Bar verloren. Am nächsten Morgen bin ich mit einem furchtbaren Kater aufgewacht. Im selben Moment wurde mir klar: Ich brauche gar keine Kamera, um Fotos zu machen. Andere können es für mein Projekt tun. In dieser Sekunde löste sich das Problem „Daily Portrait Berlin“ in Luft auf. Ich hatte des Rätsels Lösung gefunden.

Es wäre auch möglich gewesen, eine andere Kamera zu verwenden. Inwiefern ist die Tatsache, dass Sie die Fotos nicht selbst machen, Teil des Projekts?

Pavel: Ich wollte, dass das Wort „Berlin“ im Titel von „Daily Portrait Berlin“ nicht einfach auf die Stadt verweist, in der es stattfindet, sondern dass Berlin hier für eine Art Prinzip steht. Als Autor der Fotografien kann ich dieses Prinzip nicht ausdrücken, das kann nur dadurch geschehen, dass Berliner in Interaktion miteinander treten und diese Interaktion irgendwie festhalten. Ich habe also das gleiche Kameramodell, das ich verloren hatte, nochmal gekauft und bin wieder nach Berlin gegangen, um einen Neustart mit DP Berlin zu versuchen. Ich habe Elle in ihrer Wohnung fotografiert, ihr meine Kamera gegeben und sie hat am nächsten Tag ‚M‘ in deren Wohnung fotografiert. ‚M‘ hat ein Foto von Jonathan gemacht, Jonathan eines von Carise, Carise eines von Christoph und so weiter. Wenn ich die Fotos selbst machen würde, wären alle Fotos gleich, und das wäre langweilig. Für mich ist das Wichtigste, etwas Neues in der Fotografie zu entdecken.

Warum müssen die Teilnehmer im Projekt nackt sein?

Pavel: Ich finde, dass die Menschen in unserer Gesellschaft „überdefiniert“ sind. Wir konzentrieren uns so sehr darauf, uns selbst und andere zu definieren, dass wir dabei die Beziehung zueinander verlieren, vor allem mit Hinblick darauf, was unter den vielen Schichten an vordefinierten Kategorien liegt. Die fotografierten Berliner sind nackt und anonym – das kommt ihrem Ich, mit dem sie geboren wurden, am nächsten. Es geht mir darum, Kategorien aufzulösen und diese Kategorien, die durch die Gegenstände in ihren Wohnungen symbolisiert werden, im Hintergrund zu lassen. Ich glaube, das kann befreiend sein.

Dann handelt es sich also um ein politisches Projekt?

Pavel: Nein, überhaupt nicht. DP Berlin zielt nicht darauf, politisch Stellung zu beziehen. Es ist eine Dokumentation und eine Anerkennung von Menschlichkeit.

Es gibt auch einige Teilnehmer, die Unterwäsche tragen.

Pavel: Ja, weil ich niemanden dazu zwingen will, sich zu entblößen. Das können die Teilnehmer während des Fotoshootings selbst entscheiden. Manche fühlen sich währenddessen unwohl, wenn sie nackt sind. Unterwäsche ist immer eine Option.

Die Fotos unterscheiden sich teilweise stark voneinander. Wie sehr hängt die Qualität eines Fotos vom Fotografen ab? Sind Sie zufrieden mit den Bildern?

Pavel: Sehr sogar. Die Qualität der Fotos hängt auch nicht notwendigerweise davon ab, wer das Foto gemacht hat. Einige Amateure haben wirklich außerordentlich gute Bilder produziert. Porträtfotografie in Innenräumen gehört zu den schwierigsten Arten des Fotografierens überhaupt. Hinzu kommt bei diesem Projekt, dass die Fotografen Menschen ablichten müssen, die sie zum ersten Mal in ihrem Leben treffen. Es kommen so viele Schwierigkeiten zusammen: Die fremde Umgebung, meist sehr wenig Platz und schlechte Lichtbedingungen. Und all das mit einer nicht sehr teuren Kamera. Ich finde, die Teilnehmer machen das ziemlich gut. Berliner sind talentiert

Gibt es bereits 365 Teilnehmer für DP Berlin?

Pavel: Nein.

Haben Sie nicht manchmal Bedenken, dass sich am Ende des Jahres nicht 365 Teilnehmer gefunden haben?

Pavel: Am Anfang hatte ich Angst, ja. Aber ich nehme alle Anfragen an. Gerade ist tatsächlich eine schwierige Zeit. Im Sommer sind viele Berliner gar nicht in der Stadt, sondern auf Reisen. Was ich brauche, sind vor allem ältere Teilnehmer. In unserer Welt veröffentlichen die Medien nur Fotos weißer Frauen, die jung und schlank sind. Dieses Schönheitsideal will ich aufbrechen. Denn es ist der Grund, warum zum Beispiel viele aus der älteren Generation sich davor scheuen, ihren Körper zu zeigen. Trotz allem bin ich optimistisch, DP Berlin wie geplant zu schaffen. Ich habe einen fünfmonatigen Zeitpuffer.

Wie erfahren die „Bewerber” von Ihrem Projekt? Wer sind die Leute, die an DP Berlin teilnehmen?

Pavel: Die meisten haben aus der Presse von dem Projekt erfahren, manche auch von Freunden, die selbst teilgenommen haben oder aus den sozialen Netzwerken. Sie kommen aus ganz unterschiedlichen Berufen. Unter den Teilnehmern befinden sich Juristen, Promovierende, Journalisten, Informatiker, aber auch Leute, die im Marketing, Film oder Werbebereich arbeiten. Was sie eint, ist irgendein Bezug zur Kunst. Bei vielen ist diese Beziehung eher privat, andere sind selbst Künstler. Unter den schon abgebildeten Berlinern befinden sich zum Beispiel Fotografen, Kuratoren, Musiker, Designer und Tänzer. Meine Rolle besteht lediglich darin, die Fotoshootings zu arrangieren.

Gab es Fälle, in denen Teilnehmer doch noch abgesprungen sind, nachdem sie ihren vorgesehenen Fotografen kennengelernt haben?

Pavel: Nein, so einen Fall gab es bisher nicht.

Interessenten an „Daily Portrait Berlin“ können sich direkt an den Künstler wenden: portraitdaily@gmail.com. Die Teilnahme am Projekt ist kostenfrei. Teilnehmen können alle Erwachsenen über 18 Jahre. Die 365 werden in einer Galerie ausgestellt und in einem Buch veröffentlicht, das im Herbst 2016 erscheint. Es handelt sich um ein Non-Profit-Projekt. Weitere Informationen sowie eine aktuelle Fotostrecke unter dp4.portraitdaily.com