Der Rebell mit der Kamera

Der Rebell mit der Kamera

Ein neuer Band über den Fotografen Ivan Kyncl zeigt Bilder und Porträts aus der Zeit der Normalisierung

6. 8. 2014 - Text: Volker StrebelText: Volker Strebel; Foto: Ivan Kyncl

 

Der Prager Frühling des Jahres 1968 hatte nicht nur die Länder des „real existierenden Sozialismus“, sondern ganz Europa in Begeisterung versetzt. So euphorisch das tschechoslowakische Experiment eines „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“ begrüßt wurde, so niederschmetternd hatte sich die gewaltsame Niederschlagung im August 1968 auf das ganze Land ausgewirkt.

Ivan Kyncl hatte als 15-Jähriger die russischen Panzer in Prag erlebt. Als Kind reformkommunistischer Eltern war er für diese Vorgänge ebenso sensibilisiert, wie für das Berufsverbot seines Vaters, den Journalisten und Radioreporter Karel Kyncl, und dessen Verhaftung im Jahr 1972. In gewisser Weise ist Ivan Kyncl in die Rolle des fotografierenden Chronisten hineingewachsen, die ihn später als Berufung und Beruf weit über die Landesgrenzen hinaus berühmt gemacht hatte.

Zu seinem Aufgabenfeld fand der junge Ivan, als sich in der ČSSR nach dem gewaltsamen Ende des liberalen Kurses von Alexander Dubček die Politik der sogenannten Normalisierung unter Gustáv Husák zu etablieren begann. Als begeisterter Fotograf begleitete er diesen gesellschaftspolitischen Umbruch in seiner Heimat, der in Form von Bespitzelungen, Repressionen und Verfolgungen nicht zuletzt auch in Kyncls unmittelbarem familiären Umfeld vonstatten ging. Tausende Historiker, Politiker, Schauspieler und Schriftsteller hatten im Zuge von Säuberungsmaßnahmen ihre angestammten Funktionen verloren und konnten ihren Lebensunterhalt fortan lediglich als Fensterputzer, Hilfsarbeiter oder Nachtwächter verdienen.

Das kommunistische Regime hatte es auf unabhängige Geister und eigenständig denkende Persönlichkeiten abgesehen. Verdächtig war jeder, der von der staatlich verordneten Linie abwich und dies zu erkennen gab. Langhaarige Musiker um die Bands „Plastic People of the Universe“ oder „DG 307“ waren nicht unbedingt politisch ausgerichtet, hatten allerdings Schwierigkeiten, sich kritiklos der allgemeinen Lethargie anzupassen und verwirklichten ihre eigenen musikalischen Ideen. In spektakulären Prozessen im Jahr 1976 waren sie zu langjährigen Haftstrafen verurteilt worden.

Diese Vorgänge hatten dazu geführt, dass sich völlig unterschiedliche Persönlichkeiten wie zum Beispiel der Dramatiker Václav Havel, frühere kommunistische Reformpolitiker wie Zdeněk Mlynář oder der ehrwürdige Philosophie-Professor Jan Patočka zusammengefunden hatten, um ihren Widerspruch gegen das gewaltsame Eingreifen des Regimes in die Lebenswirklichkeit einzelner Bürger auszudrücken. Ivan Kyncl begleitete alle diese Stationen mit seiner Kamera. So hielt er unter anderem Rockkonzerte auf Havels Grundstück in Hradeček ebenso fest wie das Begräbnis Patočkas, einem der ersten Sprecher der Charta 77.

Diese Ereignisse konnte Kyncl nur mit List fotografieren, da die Polizei alles daran gesetzt hatte, die Vorfälle unter ihre Kontrolle zu bringen. Kyncl hatte dabei den Spieß umzudrehen versucht und mit seiner Kamera die Einschüchterungsversuche der Staatspolizei dokumentiert.

Für zeitlose Eindrücklichkeit stehen aber auch seine Porträtaufnahmen von „Frauen der Charta 77“, die er für einen Interviewband der Schriftstellerin Eva Kantůrková zur Verfügung gestellt hatte. Kyncl dokumentierte den allgemeinen atmosphärischen Stillstand der Normalisierung in seiner Heimat zudem mit einer Serie erschütternder Bilder, auf denen alte Menschen unter unwürdigen Verhältnissen ihre verbleibenden Tage fristeten.

Den Untertitel des Bandes „Rebellion mit der Kamera“ unterstreichen auch die Fotos einer Reise nach China, die Kyncl nach seinem Antritt in das britische Exil 1980 unternommen hatte. In London avancierte er zu einem bedeutenden Theaterfotografen, dessen ausdrucksstarke Einstellungen große Anerkennung fanden. Am 6. Oktober 2004 starb Ivan Kyncl überraschend an einem plötzlichen Herzversagen.

Die vorliegende konsequent dreisprachige Ausgabe, der unter anderem Hans-Dietrich Genscher ein Grußwort beigesteuert hat, erscheint als Begleitband einer großen Ivan-Kyncl-Ausstellung, die derzeit in Bremen zu sehen ist und im Frühjahr 2015 nach Prag und Brünn reisen wird.

In ihrem sachkundigen Porträt „Rebellion mit der Kamera: Der Fotograf Ivan Kyncl (1953–2004)“ geht Heidrun Hamersky, die sich in ihrer Dissertation über viele Jahre hinweg mit dem Leben und Werk Kyncls beschäftigt hat, auf zeitgeschichtliche wie auch biografische Hintergründe ein. Für eine zusätzliche Erschließung der dargestellten Fotos sorgt die Studie des Historikers Vilém Prečan „Vom Februar bis zum November: Die Tschechoslowakei in den Jahren 1948 bis 1989“. Es gelingt ihm eindrücklich, die Verzahnung historischer Ereignisse aufzuzeigen. Da die Normalisierung für eine sozialpsychologische Kontaminierung der Gesellschaft verantwortlich ist, liegt somit neben der künstlerischen Wertschätzung Kyncls auch ein wertvoller Beitrag zur Aufarbeitung der jüngeren Vergangenheit vor.

Heidrun Hamersky, Ulrike Huhn, Susanne Schattenberg (Hg.) „Ivan Kyncl – Rebellion mit der Kamera“. Kerber Verlag, Bielefeld/Berlin 2014, 223 Seiten, 32 Euro, ISBN 978-3-86678-986-9