Der Wahrheit verpflichtet

Der Wahrheit verpflichtet

In den Jahren der Verbannung predigte Jan Hus dem Landvolk und verfasste seine wichtigsten Schriften

2. 7. 2014 - Text: Friedrich GoedekingText: Friedrich Goedeking; Foto: Konstanzer Konzilschronik

Vor 599 Jahren, am 6. Juli 1415, starb Jan Hus auf dem Scheiterhaufen in Konstanz. Dabei hatte er wenige Jahre zuvor noch den Höhepunkt seiner Laufbahn erreicht: In Prag galt Hus als der beliebteste Prediger – in der Bethlehemskapelle sprach er fast jeden Tag vor bis zu 3.000 Zuhörern, zwischen 1402 und 1412 soll er etwa 3.000 Mal auf der Kanzel gestanden haben. Mehrmals übertrug ihm Erzbischof Zbynko Zajíc von Hasenburg die ehrenvolle Aufgabe des Synodalpredigers. Zugleich war er der führende Theologe an der Universität und wurde für das Semester 1409/10 sogar zum Rektor gewählt. Zudem verfügte Hus über beste Verbindungen zum Hof. Er war der Beichtvater der böhmischen Königin Sophie von Bayern, die seinen Predigten in der Bethlehemskapelle regelmäßig beiwohnte.

Doch Ende des Jahres 1412, drei Jahre vor seinem Tod, stand Jan Hus wie ein Verlierer da. Er verlor die Unterstützung der Universität, und auch König Wenzel IV. entzog ihm seine Gunst. Übermächtig war die Zahl seiner Gegner angewachsen. Sogar ehemalige Lehrer und Freunde beschuldigten ihn der Häresie. Hus hatte die Kirchenkritik des englischen Reformers und Theologen John Wyclif übernommen und in scharfer Form die Autorität des Papstes und den Lebenswandel der Kleriker angegriffen.

Unter Berufung auf die Weisungen Christi lehnte er die Papstkirche radikal ab. Er verglich sie mit einem Körper, der von Lepra zerfressen sei. Scharf ins Gericht ging er mit dem Klerus, dessen Lebensführung er immer wieder mit harten Worten geißelte. Er nannte die Geistlichen „die größten Feinde unseres Herrn Jesu Christi“, weil sie nach dem Gottesdienst nicht schnell genug in die Wirtshäuser zum Trinken und Kartenspielen und zu ihren Konkubinen eilen könnten. Empört berichtete er über Geistliche, die sich jede liturgische Handlung und sogar das Glockenläuten von den Gläubigen bezahlen ließen. Das größte Übel sah Hus in der Simonie, der Käuflichkeit geistlicher Ämter.

Bereits 1408 empörten sich die Prager Stadtpfarrer beim König über Hus. Zunächst wies Wenzel die Proteste der Kleriker noch ab. Doch der Bischof entzog Hus „als einem ungehorsamen Sohn der Kirche“ die Ausübung des Predigtamtes. Anfangs setzte sich Hus noch über das Verbot hinweg, weil er über genügend Rückhalt beim Hof und in der Bevölkerung verfügte. Doch seine Gegner wandten sich an die Kurie und setzten seine Exkommunikation durch. Sein einstiger Freund Štěpán von Páleč bezeichnete die Bethlehemskapelle als eine Schule des Satans, in der der Erzketzer Hus das Volk aufwiegele für eine Reform der Kirche ohne Papst und Hierarchie.

Schließlich verlor Hus auch die Unterstützung des Königs, dem es zunehmend ein Dorn im Auge war, dass Böhmen in Europa als Ketzerland gebrandmarkt wurde, was seine Bemühungen um die deutsche Königskrone zunehmend erschwerte. Hinzu kam, dass Wenzel 1412 den päpstlichen Ablass für einen Kreuzzug des Papstes Johannes XXIII. gegen den König von Neapel unterstützte, an dessen Einnahmen er selbst beteiligt war.

Hus nahm kein Blatt vor den Mund. Er entlarvte den Ablass als eine trickreiche Bereicherung der Kirche und die Anwendung von Gewalt durch die Kirche als Gotteslästerung. Schließlich musste Hus seinen Ungehorsam gegenüber der mächtigsten Institution seiner Zeit, der Kirche, und gegenüber dem böhmischen König damit bezahlen, dass er Prag im November 1412 verlassen und ins Exil gehen musste.

Aufnahme fand Hus auf den Burgen der böhmischen Adeligen, zunächst in Südböhmen und 1414 auf der etwa 70 Kilometer westlich von Prag gelegenen Burg Krakovec, von wo aus er im Oktober 1414 seine Reise nach Konstanz antrat. Auch in der Verbannung blieb Hus in seinem Reformeifer ungebrochen. Er predigte nun dem Landvolk und sah sich als Wanderprediger in der Nachfolge Jesu, nachdem er die Kanzel in der Hauptstadt mit dem Predigen in Scheunen, Ställen, auf Wiesen und Wegkreuzungen eintauschen musste. Für ihn war die Predigt der Dreh- und Angelpunkt der Kirchenreform.

Der Kelch wurde zwar zum Symbol der hussitischen Bewegung, aber für Hus selber hatte das gepredigte Wort offensichtlich eine größere Bedeutung als die Sakramente. Dabei berief er sich in seiner Predigtsammlung von 1413 auf das Vorbild Jesu: „Der Heiland taufte wenig, zelebrierte nur einmal, am Ende seines Lebens, eine Messe. Dagegen begann er schon mit zwölf Jahren zu predigen, als er im Tempel die Weisen belehrte. Dann aber, mit 30 Jahren, predigte er drei Jahre und einige Monate bis zu seinem Tode und wurde deswegen gekreuzigt. Als er von den Toten auferstand, predigte er erneut seinen Jüngern und befahl ihnen vor seiner Himmelfahrt, aller Welt zu predigen.“

Von weit her strömte das Landvolk zusammen, um Hus zu hören. Seine Predigten zeigten Wirkung: Unter anderem predigte Hus häufig unweit der Stadt Tábor, wo nach seinem Tod die radikalen Hussiten eine Gemeinschaft gründeten, in der es keine Standesunterschiede mehr geben sollte und eine Güterteilung angestrebt wurde.

In der zweijährigen Verbannung verfasste Hus seine wichtigsten Schriften – überwiegend auf Tschechisch. Darunter befindet sich auch sein berühmtestes Traktat „Über die Kirche“. In ihr erklärte Hus die Bibel zur einzigen Norm für das Leben und die Lehre der Kirche. Sie enthalte die Lex Dei, das Gesetz Gottes. Für Hus war es das „natürlichste, leichteste, kürzeste und nützlichste Gesetz“. Mit ihm rufe Gott die Kirche und die Christen auf zu einem Leben in Eintracht, Demut, freiwilliger Armut, Keuschheit und Geduld.

Für Hus standen das Papsttum und die hierarchische Struktur der Kirche im Widerspruch zu den Aussagen der Bibel. Das Papsttum könne sich nicht auf eine Anweisung Christi berufen. Der Fels der Kirche sei Christus selbst und nicht Petrus. Die weltliche Macht, die der Papst für sich beanspruche, sei ihm nicht von Gott übertragen worden, sondern vom Kaiser Konstantin. Um deutlich zu machen, dass die Kirche nicht auf menschlichen Überlieferungen  beruhe, sondern allein göttlichen Ursprungs sei, griff Hus auf die Lehre von der Prädestination, der Vorherbestimmung Gottes zurück. Demnach ist die Kirche die Gemeinschaft der von Gott Auserwählten, sie lässt sich allein von der Lex Dei und von Christus selbst inspirieren, lenken und leiten. Christus will seine Kirche leiten durch demütige und arme Hirten und dazu brauche er keinen Papst, der wie ein weltlicher Herrscher Macht ausübt und Reichtümer ansammelt. Ein solcher Papst verhöhne das Gesetz Christi und sei der Antichrist.

In Böhmen gehörte der Kirche zur Zeit von Hus ein Drittel des Grundbesitzes in Böhmen. Hus plädierte für eine Enteignung des Kirchenbesitzes, da nur eine arme Kirche sich nach dem Vorbild der Urkirche auf Christus berufen könne. Die gesellschaftliche Ordnung seiner Zeit, die feudalistische Ständeordnung, stellte er nicht grundsätzlich in Frage. Wohl aber übte er im Jahre 1413 in seiner Erläuterung der Zehn Gebote scharfe Kritik an der rücksichtslosen Bereicherung durch Herren und Kaufleute, wenn sie die Armen erpressen, und von ihnen Steuern eintreiben, ohne eine Gegenleistung zu erbringen. Räuberei nannte Hus nicht nur den üblichen Diebstahl, auch Täuschungen und Listen der Kaufmannsschaft, Wucher und jegliche Benachteiligung des Nächsten zählte er dazu. Dagegen solle man Diebstahl, der aus bloßer Not begangen sei, nicht bestrafen, sondern gemäß der Weisung Jesu mit den Armen teilen.

In den Auslegungen der Zehn Gebote von 1413 findet sich auch der bekannte Appell, die Wahrheit zu suchen, zu hören, zu lernen, zu lieben und sie bis zum Tod zu verteidigen. Das Losungswort der hussitischen Bewegung „Pravda vítězí“ („Die Wahrheit siegt“), das auch zum Losungswort des tschechischen Staates wurde, gibt Hus’ Wahrheitsbegriff nur verkürzt wieder. Für ihn ging es um den Sieg der Wahrheit Gottes und der Wahrheit Christi. Wer sich zu dieser Wahrheit bekennt, für den wird Christus zum Vorbild seiner Lebensführung. In der Nachfolge Jesu lebt er die Wahrheit und nimmt Demütigungen, Erniedrigung, Leiden und sogar den Tod auf sich. So hat sich auch Hus selbst mit dem Schicksal Christi identifiziert, als er sich in Konstanz weigerte, seine Kritik an der Kirche zu widerrufen und deshalb hingerichtet wurde.