Vaterland, Glaube und Zahnpasta

Vaterland, Glaube und Zahnpasta

Der Sammelband „Sächsisch-Böhmische Beziehungen im Wandel der Zeit“ erschließt die Geschichte beider Länder für Schüler

11. 6. 2014 - Text: Friedrich GoedekingText: Friedrich Goedeking; Foto. DHMD

Die Schriften von Karl May haben eine ganze Reihe von Leuten verdorben“, spöttelte Jan Skácel, einer der bedeutendsten tschechischen Lyriker des 20. Jahrhunderts. Neben Albert Schweitzer, Thomas Mann und Albert Einstein zählte er auch tschechische Autoren wie Jiří Wolker und Jaroslav Seifert oder den deutschsprachigen Prager Egon Erwin Kisch dazu. Denn gerade in Böhmen erfreute sich der sächsische Schriftsteller und geistige Vater von Winnetou und Old Shatterhand großer Beliebtheit. Seine Leserschaft ging dort in die Millionen.

Dieses Beispiel für einen geglückten kulturellen Austausch zwischen Sachsen und Böhmen ist eines von vielen, die sich in einem Sammelband mit 21 Essays unter dem Titel „Sächsisch-Böhmische Beziehungen im Wandel der Zeit“ finden. Das rund 500 Seiten umfassende Buch soll vor allem im Geschichtsunterricht an Gymnasien im Grenzgebiet eingesetzt werden. Entstanden ist es im Rahmen des EU-Förderprogramms „Ziel 3“. Neben Gymnasien in Ústí nad Labem (Gymnázium Jateční und Gymnázium a Střední odborná škola dr. Václava Šmejkala) waren auch das Kreuzgymnasium in Dresden und das Friedrich-Schiller-Gymnasium in Pirna an dem Projekt beteiligt.

Wissenschaftler der Universität in Ústí nad Labem und der Technischen Universität Dresden damit haben ein Buch konzipiert, das eine jahrhundertelange Konfliktgemeinschaft anhand von ausgewählten geschichtlichen Ereignissen darzustellen versucht. Dazu gehören unter anderem die Industrie- und Wirtschaftsbeziehungen zwischen beiden Ländern, die Bilder der Dresdner Maler um 1800, die religiösen Konflikte in der Zeit der Reformation und Gegenreformation sowie Alltagsgeschichten diesseits und jenseits der Grenze.

Die im Buch dargestellten Beziehungen zwischen Sachsen und Böhmen reichen von der frühen Neuzeit bis in die Gegenwart, sie gliedern sich in sechs Themenbereiche, wie zum Beispiel „Verbündete und Feinde“, „Vaterland und Glaube“ und „Grenzgänger, Verbrechen, Abenteuer, Humor“.

Mit der Geschichte des Leitmeritzer Bürgers Václav Nosidlo von Geblitz wird der Leser mit dem Schicksal der protestantischen Exulanten konfrontiert, die vor der gewaltsamen Rekatholisierung in Böhmen nach 1621 in das lutherische Nachbarland flohen. Mehr als zweitausend Protestanten fanden in Pirna Asyl. Nosidlo musste aber auch hier um die Glaubensfreiheit kämpfen, da die Sachsen fürchteten, die Böhmen könnten die in ihren Augen ketzerische calvinistische Lehre verbreiten. Die Zahl der Flüchtlinge stellte die Stadt mit 4.000 Einheimischen vor große Probleme, sodass sie den Kurfürsten um einen Aufnahmestopp bat. Nach dem Dreißigjährigen Krieg zeigte sich jedoch, dass das Zusammenleben auch Früchte trug, indem gerade die aus Böhmen stammenden Glaubensflüchtlinge entscheidend zum Wiederaufbau der Stadt beitrugen.

Landschaften ohne Grenze spiegeln sich in den Kunstwerken der bekannten Maler Carl Gustav Carus, Caspar David Friedrich, Ludwig Richter und Philipp Otto Runge wider. Böhmen und Sachsen waren für sie ein unbegrenzter Raum landschaftlicher Schönheit. So empfahl Carus seinen Zeitgenossen: „Tritt denn hin auf den Gipfel des Gebirges, schau hin über die langen Hügelreihen, betrachte das Fortziehen der Ströme …welches Gefühl ergreift Dich? – Es ist eine stille Andacht in Dir, Du selbst verlierst Dich im unbegrenzten Raume, Dein Ich verschwindet, Du bist nichts, Gott ist alles.“

Dass auch die sächsisch-böhmische Wirtschaftsgeschichte Kuriositäten kennt, belegt ein Aufsatz über die Zahncreme Odol. Sie gilt bis heute als traditionell tschechisches Produkt. Ihr Name –eine Zusammensetzung des griechischen Wortes „odous“ für Zahn und des lateinischen „oleum“ für Öl – wurde in der tschechischen Werbung von „odolnost“ („Beständigkeit“) abgeleitet. Er verweist also auf eine Zahnpasta, die fleißig benutzt, auch eine gesunde Widerstandsfähigkeit der Zähne garantiert. Kreiert wurde der Werbespruch: „Odol neodoláš!“ („Odol widerstehst du nicht!“).

Ursprünglich begann der sächsische Unternehmer Karl August Lingner 1892 in Dresden mit der Produktion des Mundwassers Odol und wenig später auch mit der gleichnamigen Zahncreme. Er wurde durch den Verkauf zum Multimillionär. Bereits 1894 konnte er jenseits der Grenze in Bodenbach bei Děčín eine Fabrik eröffnen. Als im Zweiten Weltkrieg die Odol-Werke in Dresden vollständig zerstört wurden, konnte allein die Produktion im tschechischen Bodenbach weitergeführt werden. 1948 wurde die Fabrik als ehemals deutsche Firma enteignet und in eine tschechische Staatsfirma umgewandelt. Bis ins 21. Jahrhundert hinein konnte sich die Marke auf dem tschechischen Markt und damit auch in der freien Marktwirtschaft behaupten.

Zu dem bis heute kontrovers diskutiertem Thema der Vertreibung der Deutschen aus der Tschechoslowakei bietet der Sammelband unter anderem zwei Darstellungen von einem tschechischen und einem deutschen Wissenschaftler an. Sie sollen den Schülern die unterschiedlichen Perspektiven auf die Ereignisse von der Besetzung des Sudetenlandes durch die Wehrmacht bis hin zur Vertreibung der Deutschen nach dem Zweiten Weltkrieg vermitteln.

Zum Buch erschienen ebenfalls zwei Ergänzungsbände – ein Band mit Schülermaterialien und ein Handbuch für Lehrer, das die Themen mit der Erlebniswelt der Schüler verknüpft. Alle drei Bände sind zweisprachig konzipiert.

Sächsisch-Böhmische Beziehungen im Wandel der Zeit. Kristina Kaiserová und Walter Schmitz (Hg.). Dresden: Thelem-Universitätsverlag 2013