Ein Gespür für politische Triebkräfte

Ein Gespür für politische Triebkräfte

Ludwig Winder war seiner Zeit voraus und legte 1937 mit „Der Thronfolger“ einen der außergewöhnlichsten historischen Romane der deutschsprachigen Literatur vor. Hinter dem Werk steht ein bewegtes Autorenleben

16. 4. 2014 - Text: Josef FüllenbachText: Josef Füllenbach; Foto: APZ

Unter all den Büchern, die schon seit geraumer Zeit in den Buchhandlungen die Thementische zum Ersten Weltkrieg beschweren, ist Ludwig Winders „Der Thronfolger. Ein Franz-Ferdinand-Roman“ hervorzuheben. Dem Wiener Verlag Zsolnay kommt das Verdienst zu, mit Blick auf den sich nähernden hundertsten Jahrestag der Ermordung des Thronfolgers der Habsburgerdynastie, diesen außerordentlichen Roman aus dem Jahre 1937 neu aufgelegt zu haben.

Ludwig Winder stammt aus dem südmährischen Šafov (Schaffa) nahe der österreichischen Grenze, wo er am 7. Februar 1889 als Sohn eines jüdischen Lehrers geboren wurde. Nach dem Abitur in Olomouc (Olmütz) begann er im Sommer 1907 seine journalistische Laufbahn als Lokalreporter bei der linksliberalen Zeitung „Die Zeit“ in Wien. Die Arbeit für Zeitungen betrachtete er aber zeitlebens nur als Broterwerb. Winders eigentliche Leidenschaft galt der Schriftstellerei, wobei er sich zunächst vor allem zur Lyrik und zum Drama hingezogen fühlte. In der Zeit von 1909 bis 1914 wechselte Winder als Feuilletonredakteur in rascher Folge Engagements im schlesischen Bielsko (Bielitz), in Teplice (Teplitz), Plzeň (Pilsen) und Wien. In Teplitz lernte Winder 1912 seine spätere Frau Hedwig Grab kennen, die ihn um mehr als vierzig Jahre überleben sollte.

1914, kurz vor Kriegsausbruch, trat er als Feuilletonredakteur und Schauspielreferent in die nationalliberale Prager „Deutsche Zeitung Bohemia“ ein, eine Stelle, die er bis Ende 1938 behielt. In diesen knapp 25 Jahren schrieb er rund 3.000 Artikel für die „Bohemia“ und verstand es, auch namhafte Autoren aus dem Ausland für Beiträge zu gewinnen: Heinrich Mann, Gustav Meyrink, Robert Musil, Walter Hasenclever und andere. Zudem fand er rasch Kontakt zu den deutsch schreibenden, meist jüdischen Autoren des Prager Kreises, zu denen in jener Zeit unter anderem Franz Kafka, Paul Leppin, Egon Erwin Kisch, Franz Janowitz, Franz Werfel, Willy Haas und Johannes Urzidil zählten.

Nach dem Tod von Kafka 1924 nahm Winder dessen Platz im sogenannten „engeren Kreis“ von Max Brod, Oskar Baum und Felix Weltsch ein. Das literarische und kulturelle Leben der deutschen Gemeinde in Prag hat Winder in dem Viertel­jahrhundert seines Wirkens in der Moldaumetropole entscheidend mitgeprägt. Und dank seiner guten Kenntnis des Tschechischen war es ihm gegeben, die Verbindungen zwischen der tschechischen und deutschen Kulturszene zu pflegen; ein Anliegen, das ihm zeitlebens wichtig war.

Schon während des Krieges findet Winder zu seinem eigentlichen Metier, zur erzählenden Prosa. In einer ersten Schaffens­periode erscheinen bis 1924 nacheinander mehrere Romane und Erzählungen, darunter 1922 das wohl bekannteste Werk „Die jüdische Orgel“, das dem noch jungen Schriftsteller den literarischen Durchbruch brachte. Dieser noch teils dem Expressionismus verbundenen Phase schließt sich ab 1925 eine weitere Schaffensperiode bis 1938 an, die insgesamt fünf Romane und einige Erzählungen umfasst.

Für den 1934 zunächst in tschechischer Sprache, im Jahr darauf im Original auf Deutsch erschienenen Roman „Steffi oder Familie Dörre überwindet die Krise“ erhielt der damals 45-jährige Winder den tschechischen Staatspreis für Werke und Leistungen in deutscher Sprache. Zu den Romanen dieser Zeit gehört auch „Der Thronfolger“, der jedoch nicht nur als das mit Abstand umfangreichste Werk Winders, sondern auch als sein einziger historischer Roman eine Sonderstellung im Gesamtwerk einnimmt.

Nach Hitlers Machtergreifung 1933 verschaffte Winder den emigrierten deutschen Literaten Publikationsmöglichkeiten in seiner „Bohemia“. Er zählte 1938 zu den ersten, die die Gefahr einer vollständigen Besetzung des Landes realistisch einschätzten und nach der Besetzung des Sudetenlandes seine jüdischen Freunde und Kollegen zur Abreise ins Exil drängte, solange es noch möglich war. Ihm selbst, seiner Frau und seiner ältesten Tochter Marianne gelang erst im Juni 1939 die Flucht über Polen und Skandinavien nach England. Die jüngere Tochter Eva zog es vor, noch abzuwarten. Als sie später nachfolgen wollte, wurde sie abgefangen; Eva kam im Frühjahr 1945 im KZ Bergen-Belsen zu Tode.

Psychologie des „Helden“
Im Exil musste sich Winder die wenigen Romane und Beiträge für Emigrantenzeitungen schon seiner sich verschlimmernden Herzkrankheit abringen. Manches blieb unvollendet, vor allem der Lebensbericht „Geschichte meines Vaters“, mit dem er sich noch einmal seiner Jugendzeit in Mähren zuwandte. Bis zuletzt trug er sich mit dem Gedanken, nach dem Krieg nach Prag zurückzukehren. Er glaubte an die Möglichkeit, dass Tschechen und Deutsche zu einem neuen Miteinander finden könnten. Er selbst wollte dazu beitragen, an die frühere „gegenseitige Befruchtung der deutschen und tschechischen Kulturkreise“ anzuknüpfen und „eine Kulturgemeinschaft aller die Tschechoslowakei bewohnenden Völker“ aufzubauen. Dazu ist es nicht mehr gekommen. Winder erlag am 16. Juni 1946 seinem Herzleiden. In der Tschechoslowakei stand nach der Katastrophe der Naziherrschaft fast niemandem der Sinn nach einem Anknüpfen an das Jahrhunderte währende Zusammenleben der beiden Völker.

Mit der Person des österreichischen Thronfolgers hatte sich Winder schon viele Jahre auseinandergesetzt, bevor er 1937 daran ging, den Stoff in dem Buch „Der Thronfolger. Ein Franz-Ferdinand-Roman“ aufzuarbeiten. Bereits in seiner Zeit bei der „Teplitzer Zeitung“ 1911/12 – also gut drei Jahre vor dem unglücklichen Ende des Thronfolgerpaares – griff er das Thema erstmals in einem Leitartikel unter der Überschrift „Franz Ferdinand“ auf und sprach dabei das Rätselhafte dessen Persönlichkeit an: „Das österreichische Antlitz Franz Ferdinands ist undurchdringlich (…) Die Psychologie des Thronfolgers ist nun gar ein Kapitel, das erst darauf wartet, aufgeschlagen zu werden.“

Aus diesem Kapitel ist schließlich ein ganzes Buch geworden, in welchem die Psychologie des „Helden“ so gründlich aufgeblättert ist, dass die Verbreitung des Romans kurz nach seinem Erscheinen vom Wiener Bundeskanzleramt noch Ende 1937 gemäß dem „Gesetz zum Schutz des Ansehens Österreichs“ verboten wurde. Die tschechische Ausgabe, die in der Übersetzung von František Šelepa im September 1938 in Prag herauskam, musste wenige Monate später aus dem Verkehr gezogen werden.

Mit dem „Thronfolger“ hat Winder keine Biographie Franz Ferdinands vorgelegt. Andererseits handelt es sich aber auch nicht um eine fiktionale Darstellung. Die Schilderung der Lebensstationen des Thronfolgers, seines Handelns und seiner Ziele, seiner Charakterzüge und seiner Beziehungen zu anderen Akteuren ist ebenso quellennah und aus der profunden Kenntnis aller wesentlichen Fakten und Zeitumstände erarbeitet wie die Charakterisierung der anderen Personen, die für Franz Ferdinands Weg und Schicksal bedeutsam waren. Bewundernswert, wie es Winder versteht, sich mit feinem psychologischen Gespür in die Protagonisten seiner Erzählung hineinzuversetzen und durch die Wiedergabe von Franz Ferdinands Gedanken und Ängsten immer wieder ein hochdifferenziertes Bild der widersprüchlichen Natur des Titelhelden zu zeichnen.

Despotische Anwandlungen
In Winders „Thronfolger“ tritt uns ein Mensch mit Eigenschaften entgegen, die seine Eignung als Herrscher des Vielvölkerstaates eher fraglich erscheinen lassen. Franz Ferdinand kam nicht als Thronfolger auf die Welt, sondern erst der Selbstmord des Kronprinzen Rudolf 1889 und danach im Jahre 1896 der Tod des Vaters, des Erzherzogs Karl Ludwig, des jüngeren Bruders von Kaiser Franz Joseph, machten dem 32-Jährigen den Weg frei, seinem Onkel auf den habsburgischen Thron nachfolgen zu können. Entsprechend war die Erziehung des jungen Erzherzogs „Franzi“ nicht darauf ausgerichtet, einmal die Verantwortung für das Reich übernehmen zu müssen. Da noch eine gewisse Lustlosigkeit und Unstetigkeit im Lernen hinzukamen, zeigten Bildung und Weltbild Lücken und Vorurteile, die es dem Thronfolger schwer machten, politische Ereignisse richtig einzuordnen, Ursachen und Folgen abzuwägen und klare, seinen Zielen adäquate Strategien zu entwerfen.

Schwerer noch wogen bestimmte charakterliche Eigenschaften, die Winder in den verschiedensten Lebens­situationen anschaulich macht: Verschlossenheit, ausgeprägtes Misstrauen bis hin zur Menschenverachtung, übersteigertes Sendungsbewusstsein in Verbindung mit dem Gefühl der Minderwertigkeit, ungebändigter Jähzorn, despotische Anwandlungen, mangelnder Sinn für Maß und Mitte. Seine geradezu manische Jagdleidenschaft war neben seiner Familie die einzige Quelle der Freude. Aber auch hier erscheint er in fragwürdigem Licht: Wichtig war für ihn allein die schiere, meist in die Hunderte gehende Anzahl der erlegten Tiere; von des Waidmanns Liebe zur Natur und Kreatur ist nichts zu spüren.

War Franz Ferdinand nun der Hoffnungsträger, der potenzielle Retter des Reiches aus seiner Verknöcherung, als den ihn manche zu seinen Lebzeiten und viele bis heute gerne wahrnehmen möchten? Winder lässt diese Frage offen. Er bescheinigt ihm freilich einen kaum gezügelten Willen zur Macht und eine nagende Ungeduld, mit der der Anwärter auf das Ableben des greisen Onkels wartete und hoffte. Auch war er von der Erkenntnis getrieben, dass das Reich durchgreifender Reformen bedurfte, um dem Auseinanderbrechen zu entgehen. Mit seinen Getreuen arbeitete er Pläne für ein Regierungsprogramm nach der Machtübernahme aus.

Doch all diese Pläne lassen eines vermissen: Realismus. Sie schienen im Kern auf der Vorstellung zu fußen, dass sich das Rad der Zeit zu einem absolutistischen Regiment zurückdrehen lasse, notfalls sogar mit militärischer Gewalt. Für die immer stärker werdenden liberalen und sozialen Strömungen fehlte dem Thronfolger ebenso das Gespür wie für die spezifischen Zwänge einer konstitutionellen Monarchie. „Irgendwie“, so heißt es im Roman, wollte Franz Ferdinand durch Föderalisierung den Völkern der Donaumonarchie mehr Autonomie geben, doch gleichzeitig die Zentralgewalt festigen, „aber das unbestimmte Irgendwie bezeichnet nur zu deutlich die Unklarheit und Undurchführbarkeit der Idee, mit der er die Völker Österreich-Ungarns zufriedenstellen und beglücken wollte“.

Empathie des Autors
Zudem hatte er sich zunächst die Ungarn, später auch die Tschechen und Polen, die Südslawen und Italiener zu Feinden gemacht, „sie alle hassten ihn (…), sie fürchteten, nach dem Tode des alten Kaisers werde ein ihnen gefährlicher Mann, ein mittelalterlicher Despot auf dem Thron sitzen. Niemand kannte ihn noch, aber alle fürchteten ihn bereits.“ Keine guten Voraussetzungen für ein erfolgreiches Regieren. Den Hass, der dem Thronfolger in seinen letzten Jahren entgegenschlug, illustriert am besten eine vielzitierte Stelle aus Joseph Roths „Radetzkymarsch“. Als bei einem feucht-fröhlichen Offiziersgelage die Nachricht von der Ermordung Franz Ferdinands die Runde machte, übersetzte ein ungarischer Offizier knapp die Essenz der vorangegangenen ungarischen Unterhaltung: „Wir sind übereingekommen, meine Landsleute und ich, dass wir froh sein können, wann das Schwein hin is!“

Gegen Ende des Romans schildert Winder die Ängste und das Zögern des Erzherzogs, überhaupt nach Bosnien zu reisen, und seine noch größere Furcht, als Angsthase zu erscheinen. Das ist menschlich; er ist zu schwach, die Verantwortung für eine Absage auf sich zu nehmen. Hier und bei der Darstellung der demütigenden Ränkespiele des Wiener Hofes bis in die Gestaltung der Aufbahrung des Thronfolgerpaares spürt der Leser am stärksten die, auch schon vorher vorhandene, Empathie des Autors mit seinem Helden. Das Buch schließt mit der grandiosen Schilderung, wie eine würdige Bestattung der Toten in Artstetten zu nächtlicher Stunde in Blitz, Donner und Wolkenbruch versank und der Leichenwagen mit dem Sarg Franz Ferdinands beim Übersetzen über die Donau von scheuenden Pferden fast in die Fluten gerissen wurde. Dieses Wetterleuchten konnte für die Zukunft nichts Gutes verheißen.

Ein historischer Roman wie der vorliegende, mit großem Einfühlungsvermögen in die Zeit, in die Menschen, ihre Sorgen und Hoffnungen sowie mit Gespür für die politischen und sozialen Triebkräfte geschrieben, hilft dem späteren Leser oft mehr als alle gelehrte Fachliteratur, vergangene Epochen zu verstehen und die Beweggründe der Handelnden nachzuempfinden. Winder ist es in überzeugender Weise gelungen, einen solchen Roman zu schreiben. Es ist sehr zu hoffen, dass diese Neuauflage zusammen mit dem hochinformativen Nachwort von Ulrich Weinzierl dazu führt, den fast vergessenen Autor Ludwig Winder wiederzuentdecken und ihm die verdiente breite Leserschaft dieses und anderer Werke zu erschließen.

Ludwig Winder: Der Thronfolger. Zsolnay Verlag, 576 Seiten, 26 EUR, ISBN 978-3-552-05673-2