Die Reformation als Lerngeschichte

Die Reformation als Lerngeschichte

Die Theologin Margot Käßmann spricht in Prag über das Reformationsjubiläum 2017. Den böhmischen Prediger Jan Hus würdigt sie dabei lediglich als einen Vorläufer von Martin Luther. Ein Kommentar

2. 4. 2014 - Text: Friedrich GoedekingText: Friedrich Goedeking; Bild: Jan Hus als Gans zu Füßen Martin Luthers, Darstellung aus dem 18. Jahrhundert/Hans Stiegler

Drei Tage lang weilte Margot Käßmann in der vergangenen Woche als Botschafterin der Lutherdekade der Evangelischen Kirche in Deutschland in Prag. (Über die sogenannte Lutherdekade erschien in PZ-Ausgabe 27-28 vom 4. Juli 2013 eine kritische Stellungnahme von deutschen und tschechischen Wissenschaftlern, Anm. d. Red.) In ihren Vorträgen in der deutschen Botschaft und in der Theologischen Fakultät der Karls-Universität sprach sie unter anderem auch von den „Schattenseiten der deutschen Reformation“, wie zum Beispiel Luthers Antijudaismus, seiner Intoleranz gegenüber Andersdenkenden wie Thomas Müntzer oder seinem Versagen während der Bauernkriege.

Ebenso eindrucksvoll legte Margot Käßmann dar, inwiefern die Impulse der Reformation für unsere Gegenwart von bleibender Bedeutung sind. So erläuterte sie die Aktualität der Rechtfertigungslehre für die heutige Leistungsgesellschaft, die Bildungsoffensive der Reformatoren und die Gleichberechtigung der Frau in Kirche und Gesellschaft – die, wie Käßmann zur Erheiterung der Zuhörer ausführte, mit Luthers Loblied auf den Windel waschenden Mann einen kräftigen Impuls erhalten habe.

Die Reformationsdekade, so die Referentin, dürfe sich nicht zu einem Luther-Kult entwickeln, denn an der Erneuerung der Kirche seien mehrere Persönlichkeiten beteiligt gewesen. Wer nun aber glaubte, dass Käßmann vor ihrem Prager Publikum entsprechend die Verdienste des Jan Hus hervorheben würde, der beispielsweise mit seiner Parteinahme für die Armen oder seiner gnadenlosen Kritik an der Korruption in Kirche und Staat auch höchst aktuelle Themen angesprochen hatte, wurde enttäuscht. Käßmann nannte Jan Hus lediglich „einen Vorläufer der deutschen Reformation“.

Als eine gelungene Illustrierung der These, dass die Reformation nicht von Luther allein getragen wurde, lobte sie ein Altarbild in der Kirche von Alt-Staaken bei Berlin. Auf diesem sind zwölf wichtige Persönlichkeiten zu sehen, die entscheidend an der Erneuerung der Kirche und des Weltbildes beteiligt waren. Frau Käßmann las die Namen vor: „Nikolaus Kopernikus, Ulrich Zwingli, Johannes Calvin, Ignatius von Loyola, Thomas Morus, Katharina von Bora, Martin Luther, Thomas Müntzer, Johannes Bugenhagen, Philipp Melanchthon, Lucas Cranach, Erasmus von Rotterdam.“

Hier stockte die Rednerin, denn beim Blick auf ihre tschechische Zuhörerschaft wurde ihr bewusst, dass der Maler und seine Auftraggeber Jan Hus vergessen hatten. Jan Hus, der vergessene Reformator. Vergessen hat ihn nicht nur der Berliner Maler, vergessen haben ihn auch deutsche Theologen wie Karl Barth und selbst Dietrich Bonhoeffer, die ihn an keiner Stelle ihrer Werke erwähnen. Vergessen haben ihn auch die für die Gestaltung der Lutherdekade Verantwortlichen, indem sie nicht einmal bereit sind, im Husjahr Jahr 2015 dem Böhmischen Reformator einen angemessenen Platz in der Reformationsdekade einzuräumen.

Auf die Frage, ob nicht die Evangelische Kirche in Deutschland, deren Lutherdekade mit über 100 Millionen Euro finanziert wird, die kleine Böhmische Minderheitenkirche bei der Gestaltung des Husjahres finanziell unterstützen könne – etwa bei der Herausgabe von Broschüren oder bei Ausstellungen – blieb Käßmann die Antwort schuldig. Sie verwies stattdessen auf ein Symposion unter Beteiligung tschechischer und deutscher Forscher zum Verhältnis von Jan Hus und Martin Luther, das aber nicht 2015, sondern erst im darauffolgenden Jahr stattfinden soll.

Die Reformationsgeschichte sei, so die Referentin, eine Lerngeschichte. Bleibt zu hoffen, dass die deutsche evangelische Kirche ihr Lernpensum in einer neuen Bewertung des Jan Hus noch nachholt. Richtungsweisend könnte dabei die Einstellung des Jan Amos Comenius sein, für den die Gleichrangigkeit der beiden Reformatoren selbstverständlich war: 1661 gab er ein deutschsprachiges Kirchengesangbuch heraus, in dem die Lieder des deutschen Zweiges der Böhmischen Brüder und Lieder Luthers ihren Platz gefunden haben. Das Titelblatt zeigt Luther und Jan Hus links und rechts an einem Tisch sitzend, in der Mitte der Tafel die aufgeschlagene Bibel und das Gesangbuch.