Die Vergessenen

Die Vergessenen

Das Abschiebelager in Bělá pod Bezdězem wurde vor einem Jahr zum Symbol einer unmenschlichen Flüchtlingspolitik. Welche Zustände herrschen dort heute? Ein Besuch vor Ort

27. 7. 2016 - Text: Katharina WiegmannText: Katharina Wiegamnn; Fotos: ČTK/Radek Petrášek

Bělá pod Bezdězem (Weißwasser) macht einen friedlichen Eindruck. Der zentrale Masaryk-Platz mit seiner großzügigen Grünanlage und dem Kriegerdenkmal wirkt ein wenig überdimensioniert für den 4.800-Einwohner-Ort. Das Gras ist säuberlich gestutzt. Vor dem Lebensmittelladen „Anna“ unterhält sich eine kleine Gruppe Rentner auf Bänken. Bau­gleiche Modelle finden sich auch in deutschen Städten, die in den letzten Jahrzehnten Geld für Sanierung übrig hatten. Schaut man sich hier um, fällt es schwer, dieses Bělá mit dem zu verbinden, wofür es im vorigen Jahr Schlagzeilen machte: ein überfülltes Abschiebelager, das zum Symbol für Tschechiens harten Kurs in der Flüchtlingspolitik wurde.

Insgesamt 8.563 Ausländer wurden 2015 von der tschechischen Polizei festgesetzt. In großen Teilen der Gesellschaft lösten die Nachrichten darüber kollektive Angst, bisweilen sogar Hysterie aus – vor dem Fremden und einer drohenden Islamisierung. Präsident Miloš Zeman sprach von einer „organisierten Invasion“. Im vergangenen August waren 465 der illegal Eingereisten im Kiefernwald von Bělá pod Bezdězem hinter Stacheldraht interniert. Laut unbestätigten Angaben freiwilliger Helfer sollen es zeitweise sogar über 700 gewesen sein, darunter viele Syrer, Afghanen, Iraker und Pakistani. Die offizielle Kapazität der Einrichtung: 246. Es kam zu Unruhen, Fluchtversuchen, die Polizei setzte Tränengas ein. Bělá stand für Chaos. Die Vereinten Nationen warfen Tschechien vor, systematisch die Menschenrechte von Flüchtlingen zu verletzen. Innenminister Milan Chovanec (ČSSD) bemühte sich, öffentlich klarzustellen: „Die Einrichtung in Bělá ist keine Folter­kammer.“ Im Winter wurde es dann ruhig um die Einrichtung, zeitweise stand sie fast leer. Die Balkanroute mit Tschechien als Transit­land war dicht.  

Doch der Krieg in Syrien dauert an, der Islamische Staat kämpft nicht nur auf irakischem Gebiet weiter für seine menschenverachtende Ideologie. Für viele gibt es also weiterhin Grund zur Flucht – und manche führt der Weg noch immer nach oder durch Tschechien. Seit Mai beobachten Aktivisten wieder einen Anstieg der Zahlen. Anežka Polášková von der „Iniciativa Hlavák“ schätzt, dass derzeit ungefähr 60 Männer, Frauen und Kinder in Bělá auf die Weiter­reise warten. Polášková und andere Mitglieder der Gruppe fahren regelmäßig nach Nordböhmen und besuchen die Menschen im Lager. Sie erledigen Einkäufe, hören zu, geben Ratschläge. Mehr können sie nicht tun – die Initiative ist bislang weder ein eingetragener Verein, noch können die Freiwilligen rechtlichen Beistand anbieten. Aber ein freundliches Gesicht und vor allem das Wissen, dass es „draußen“ jemanden gibt, der sich an einen erinnert, kann viel wert sein, wenn ansonsten absolute Ungewissheit herrscht.

Bělá pod Bezdězem wirkt wie eine idyllische Kleinstadt.

Klára* besucht heute Samet, Aziz und Samira**. Obwohl ihr Studium und Nebenjob wenig Zeit lassen, ist die Tour nach Bělá für sie inzwischen Routine. Zielsicher steuert Klára den Einkaufswagen im Supermarkt in Mladá Boleslav durch eine Gruppe von Rentnern, wiegt Bananen, Nektarinen und Äpfel ab und rechnet, ob das Budget einen Vanille-Joghurt für die Kinder zulässt. Für das Milchpulver, dass sich eine Familie dringend gewünscht hat, reicht es heute nicht. 80 Kronen pro Packung sind zu teuer. Klára zuckt bedauernd mit den Schultern und packt stattdessen normale Milch in den Wagen. Die Freiwilligen bezahlen alles aus eigener Tasche; Familie und Freunde steuern ab und zu etwas bei.

Höfliche Sicherheitskräfte
Die 26-Jährige drückt auf das Gaspedal. Wir sind spät dran. Besuche sind im Lager nur außerhalb der regulären Mahlzeiten möglich; um 11.45 Uhr beginnt das Mittagessen. Die kurvige Straße führt durch einen Kiefernwald, vorbei an einem idyllisch gelegenen Schwimmbad, in dem trotz 30 Grad Außen­temperatur nur wenige ihre Bahnen ziehen. „Es ist schön hier – wenn man frei ist“, sagt Klára.

Zwischen Samira und denen, die auf der Liegewiese des Freibads Sonne tanken, liegen höchstens zwei Kilometer. Für das Mädchen aus dem Irak ist es trotzdem eine unerreichbare Welt, von der sie eine bewachte Pforte mit Sicherheitsleuten, zwei Hundezwinger und ein vier Meter hoher Zaun trennen. Dahinter spielt Samira, die ohne Familie in einem Auto aufgegriffen wurde, tagsüber Fußball. Wie alt sie ist, wissen Klára und die anderen Freiwilligen nicht genau. Man würde sie auf höchstens 14 schätzen, obwohl sie selbst­bewusst wirkt. Sie spricht sogar ein bisschen Englisch und erzählt, dass ihre Brüder den Weg nach Deutschland schon geschafft hätten. Bei einem früheren Besuch sagte sie den Helfern, dass ihre Eltern noch in Griechenland seien.

Die Anmeldung im Lager ist eine langwierige Prozedur. Obwohl die Zeit drängt, gibt sich Klára geduldig. Aber auch die Sicher­heitskräfte sind höflich und korrekt. Sie prüfen die Ausweise, anschließend geben sie den Kollegen die Namen derjenigen durch, die heute Besuch bekommen, um sie aus ihren Blöcken in das Verwaltungs­gebäude mit dem Besucherraum bringen zu lassen. Dort angekommen, wartet eine Polizistin, die den Inhalt der mitgebrachten Einkaufstüten gründlich untersucht und wiegt – fünf Kilo pro Person sind erlaubt. Die Beamtin ist freundlich; man hat nicht den Eindruck, dass die Freiwilligen hier grundsätzlich unerwünscht sind. „Wir versuchen, nett zu dem Personal zu sein, umgekehrt ist es aber genauso“, sagt Klára. Die meisten der heute anwesenden Sozialarbeiter, Polizisten und Wachleute sind Frauen.

Einfahrt zum Lager

Dennoch: Die Gittertür, die Klára jetzt noch von Samira, Samet und Aziz trennt, öffnet sich nur auf Knopfdruck der bewaffneten Polizistin. Freiwillig würde hier niemand bleiben. Bělá-Jezová ist kein Lager für Asylanten, sondern für Ausländer, die sich illegal in Tschechien aufhalten. Sie haben entweder schon in einem anderen Land einen Aufnahmeantrag gestellt – etwa in Ungarn – oder sie wollen nicht bleiben und wurden bei der Durchreise ohne gültige Papiere aufgegriffen. Die Festsetzung im Lager dient vor allem dazu, Personalien und Asyl­status zu klären.

Warum das bei manchen länger dauert als bei anderen, unter Umständen sogar Monate, wissen die freiwilligen Helfer von der „Iniciativa Hlavák“ auch nicht. In Samiras Dokument steht, dass sie mindestens 48 Tage in Bělá bleiben wird. Sie versteht kein Wort; verfasst ist es in tschechischer Sprache. Dass die Kommunikation ein großes Problem ist, kritisierte im vorigen Jahr schon Ombudsfrau Anna Šabatová. Es fehlt an Übersetzern. Samira, ein Teenager in Jeans und grauem Kapuzenpulli, hat während sie wartet immerhin ein Zimmer für sich allein. Im Sommer 2015, als Behelfsunterkünfte auf den Wiesen um die ehemaligen Militär­baracken aufgestellt wurden, wäre das wohl nicht möglich gewesen.

Jede Woche neue Familien
Samet, ein Jeside aus dem Irak, sagt, dass er und seine Familie sich um das Mädchen kümmern würden. Aber auch er und Aziz verstehen manche Regeln und Prozeduren im Lager nicht.

In Bělá-Jezová sind vor allem Familien untergebracht. Alleinstehende Männer sind in Drahonice bei Louny interniert.

Aziz zeigt Klára die Kopie eines Einkaufsbelegs. Die Sozialarbeiter erledigen manchmal Besorgungen für sie. Aziz gibt zu verstehen, dass er den Mitarbeitern beim letzten Mal 600 Kronen dafür gab. Der Kassenbeleg weist nur Lebensmittel im Wert von rund 300 Kronen aus – den restlichen Betrag habe er nicht zurückbekommen. Klára kann ihm nicht weiterhelfen, sie rät ihm lediglich, das Dokument einem Anwalt zu zeigen.

Mitarbeiter des Verbands für Rechtsfragen der Immigration (Asociace pro právní otázky imigrace, ASIM) kommen ebenfalls regelmäßig ins Lager. Die Freiwillige der „Iniciativa Hlavák“ vermutet, dass die fehlenden 300 Kronen mit einer oft kritisierten Regelung in Zusammenhang stehen könnten: Die Flüchtlinge müssen für ihren Aufenthalt im Abschiebelager bezahlen. 240 Kronen werden ihnen pro Person und Tag für Unterbringung und Verpflegung berechnet. Für eine vierköpfige Familie würden so in einem Monat 29.000 Kronen (rund 1.100 Euro) fällig, rechnete Ombudsfrau Šabatová auf einer Pressekonferenz zum Thema Bělá-Jezová im vergangenen Oktober vor. Anežka Polášková sagt, dass sich durch das öffentliche Engagement von Šabatová vieles im Lager verbessert habe. Und auch Klára berichtet von Familien, die sich zum Beispiel über die von den Sozialarbeitern organisierten Angebote für ihre Kinder freuen. Richtiger Unterricht wird allerdings nicht angeboten. Schließlich rechne man damit, dass die Menschen in Bělá das Land früher oder später wieder verlassen.

Ist ihr Prüfverfahren abge­schlossen, bekommen die Flüchtlinge einen Zettel in die Hand, der sie dazu auffordert, innerhalb von einer Woche aus Tschechien auszureisen. „Letztes Jahr hat das Rote Kreuz sie dann hier abgeholt, zum Bahnhof gebracht und ihnen eine Fahrkarte gekauft“, erzählt Klára. Die Gelder, die dafür zur Verfügung standen, seien jedoch gestrichen worden. Früher oder später landen die meisten von ihnen dennoch am Prager Hauptbahnhof – dort fing für die „Iniciativa Hlavák“ alles an. Im vergangenen Jahr organisierten sie hier einen Schicht­betrieb für Helfer, die Erfrischungen an flüchtende Menschen auf der Durchreise verteilten oder Übernachtungen organisierten, wenn die Anschlusszüge schon abgefahren waren. An einem Tag Ende September trafen sie auf Khadar** aus Somalia, der gerade aus dem Lager in Bělá-Jezová kam. Er machte sich große Sorgen um seine Frau, die nicht mit ihm entlassen worden war. Anežka, Klára und die anderen wussten vorher nicht viel über die Zustände in den tschechischen Abschiebeeinrichtungen. Khadar bat sie, seine Frau zu suchen. Er erzählte den Helferinnen, dass sie schwer krank sei und an Diabetes leide, es in Bělá aber keine ausreichende medizinische Versorgung gebe. Sie fuhren hin. Der Besuch bei Khadars Frau war der Beginn der regelmäßigen Fahrten in das mittelböhmische Abschiebe­lager. Inzwischen hat es das Ehepaar zusammen nach Dänemark geschafft. Samet, Aziz und Samira warten weiter. Wöchentlich kommen neue Familien in Bělá an. „Uns ist inzwischen klar, dass der Sommer anstrengend wird“, schreibt Anežka auf Facebook. Sie und die anderen schauen nicht weg.

* Kláras Nachname soll nicht veröffentlicht werden. Sie fürchtet, nicht alle in ihrem Umfeld würden ihr Engage­ment für Flüchtlinge gutheißen.
** Namen geändert