„Auf keinen Nenner zu bringen“

„Auf keinen Nenner zu bringen“

Harald Richter reiste 1960 zum ersten Mal wieder in seine Heimatstadt Kryry – und erkannte sie kaum wieder

13. 7. 2016 - Text: Josef FüllenbachInterview und Foto: Josef Füllenbach

Harald Richter ist freundlich und bescheiden. Von seiner Initiative möchte er kein Aufheben machen. Im Vergleich etwa mit dem Brünner Gedenkmarsch seien die Treffen im kleinen Kryry, wie er anmerkt, doch nur unbedeutende Gesten mit begrenzter Wirkung. Doch wenn man ihm zuhört und die Reaktionen der Menschen von Kryry miterlebt, kann man sich davon überzeugen, dass in diesen Begegnungen beispielgebendes Potenzial steckt. Und tatsächlich beginnt Richters Initiative schon über die Grenzen von Kryry hinaus zu wirken.

Wann sind Sie nach der Vertreibung zum ersten Mal wieder nach Kryry gekommen?
Ich war 1960 zum ersten Mal in Kryry, mitten in der Zeit des Kalten Krieges, auf eine ungewöhnliche Art und Weise. Ich heuerte für zwei Wochen als Praktikant bei einer Firma an, die an der ersten Brünner Industriemesse teilnahm. Mit dem Messevisum konnte ich einreisen. Über Karlsbad ging es zunächst nach Kryry und dann weiter nach Brünn.

Hatten Sie in Kryry noch Kontakte?
Es gab dort eine Großtante, die mit ihrem Mann, der Tscheche war und Kommunist, 1938 ins Binnenland geflohen und nach dem Krieg nach Kryry zurückgekehrt war. Beide lernte ich 1960 erst kennen. Sie haben mich herzlich aufgenommen, doch alles war sehr ärmlich und deprimierend, denn ich hatte den Ort ganz anders in Erinnerung. Damals sagte ich mir: Das ist nicht mehr deine Heimat, dahin willst du nicht mehr zurück.

Wie kam es dennoch dazu, dass Sie nach Ihrer Pensionierung Geschichte studiert haben, um sich intensiv mit Ihrer Heimat zu befassen?
Schon immer wollte ich mehr über Kryry und die deutsch-tschechische Geschichte wissen. Der Besuch 1960 war ein Dämpfer, der das Interesse ein wenig zurückdrängte. Trotzdem blieb es wach. Für mich hat sich eine Kluft aufgetan, für die ich keine Erklärung fand: nämlich einerseits die Veröffentlichungen in der Vertriebenenpresse und auch in der Historiographie, die einseitig die Opferrolle der Sudetendeutschen herausstellten und sich wenig damit befassten, was vorher geschehen war. Auf der anderen Seite hörte man von tschechischer Seite, die Vertreibung der Sudetendeutschen sei notwendig und gerecht gewesen. Das war für mich auf keinen Nenner zu bringen.

Ihr zweites Studium begannen Sie also nach der Wende?
Erst 2002 fing ich an, als Gasthörer in Köln allgemeine Geschichte zu studieren. Als ich mitbekam, dass das von Detlev Brandes geleitete Institut für die Geschichte der Deutschen in Osteuropa in Düsseldorf der richtige Platz für mich war, ging ich dorthin. In Düsseldorf fiel mir das Standardwerk von Volker Zimmermann über die Sudetendeutschen im NS-Staat in die Hände; das hat mir in vielfacher Hinsicht die Augen geöffnet. Darin tauchte in der Liste von NSDAP-Kreisleitern ein Name auf, der mir sehr bekannt war: Es war ein Onkel von mir, den ich nie gesehen hatte. Das hat mich elektrisiert und mich bewogen, selbst zu recherchieren.

Wann und wie sind Ihre ersten Bekanntschaften in Kryry entstanden?
Schon kurz nach meinem Studienbeginn nahm ich Kontakt mit jemandem aus Kryry auf, der als deutscher Kommunist nicht vertrieben worden war, aber nach 1989 regelmäßig an den Treffen der früheren Bewohner von Kryry teilnahm. Er nahm mich mit offenen Armen auf und brachte mich mit den Leuten zusammen, die in dem Haus wohnen, in dem ich 1937 geboren wurde. Später konnte ich das Haus mit meinen Kindern besuchen. Zudem vermittelte er den Kontakt zum Bürgermeister, der übrigens noch heute im Amt ist, sodass ich tagelang in dessen Archiv die alten Dokumente durchstöbern konnte.

Wie haben die Einheimischen Ihre Forschungen und Aktivitäten aufgenommen?
Als mein Buch „Der Trümmerhaufen“ fertig war, habe ich Bürgermeister Miroslav Brda vorgeschlagen, es vorzustellen. Daraufhin hat eine Sitzung stattgefunden mit dem Bürgermeister, seinem Stellvertreter, dem damaligen Schuldirektor und dem Ortspfarrer. Ich habe in einer halben Stunde die Punkte zusammengefasst, die Kryry betrafen. Damit war das Eis gebrochen. Und vor allem: Meine Aktivitäten wurden in Tschechien sehr viel positiver aufgenommen als von den alten Kriegernern in Deutschland. Viele Sudetendeutsche vertraten die Haltung, dass die Tschechen uns Unrecht angetan hätten, und dass wir keinen Kontakt mehr mit ihnen haben sollten. Sie sollten erst das Unrecht wiedergutmachen. Eine Änderung bahnt sich offenbar erst jetzt an, nachdem die meisten alten Kriegerner gestorben sind. Mein Buch galt ihnen sicher als zu tschechenfreundlich.

Wie ging es weiter, nachdem Ihr Buch erschienen war?
Als ich bei der Präsentation des Buches am Schluss sagte, man müsse mit einer Gedenktafel an die Opfer dieser Geschichte erinnern, an die jüdischen und tschechischen seit 1938 und an die deutschen ab 1945, war der Bürgermeister sofort bereit und bat mich um einen Entwurf. Ich schlug vor: „Den Opfern der Gewalt 1938 bis 1946“, also bewusst keine Erinnerung nur an die Vertreibung, sondern an alle Opfer ab 1938. Da die Stadt für die Kosten aufkam, habe ich 2010 das von mir dafür vorgesehene Geld in eine Stiftung eingebracht. Sie finanziert seitdem jedes Jahr Buchpreise für Schüler, die sich durch besondere Initiative und Engagement ausgezeichnet haben.

Die Verleihung findet jedes Jahr bei Ihren Treffen mit Schülern in Kryry statt?
Ja, 2010 begannen auch die Treffen mit den Schülern. 2012 überlegte ich, wie man vorsorgen könnte für den Fall, dass meine Kräfte nachlassen. Ich schlug dem damaligen Schuldirektor vor, von meinem Buch eine Kurzfassung für die Schüler zu schreiben. Die Schule war bereit, die Übersetzung zu organisieren, Bürgermeister und Schuldirektorin schrieben je ein Vorwort. So haben wir seit 2014 dieses illustrierte Buch, das sich auch deshalb für die Schüler eignet, weil es anhand von kurzen Einzelbiographien unterschiedliche Schicksale von Menschen in Kryry schildert.