Die reinste Freude

Die reinste Freude

Příbor ist historische Stadt des Jahres und Geburtsort Sigmund Freuds. Ein Besuch

8. 6. 2016 - Text: Katharina WiegmannText und Fotos: Katharina Wiegmann

Marie Šupová ist nicht ganz zufrieden mit dem Besuchstermin. Ein paar Tage später veranstalte die örtliche Freud-Gesellschaft das Freud-Folklore-Festival, „eine Gelegenheit für einzigartige Bilder und Eindrücke“. Freud und Folklore? Sieht so der vorbildliche Umgang mit der Stadtgeschichte aus, für den Příbor (Freiberg) kürzlich als „historische Stadt des Jahres 2015“ ausgezeichnet und mit einem finanziellen Zuschuss bedacht wurde? In jedem Fall kommt man in der mährischen Kleinstadt nicht an ihrem berühmtesten Sohn vorbei.

Der Begründer der Psychoanalyse hat nur seine ersten drei Lebensjahre in Příbor verbracht, bevor er mit seiner Familie über Leipzig nach Wien übersiedelte. „Aber das sind ja die wichtigsten Jahre“, weiß Bürgermeister Bohuslav Majer, der den Besuch aus Prag gerne persönlich empfängt und zum Rundgang durch die 8.000-Einwohner-Stadt einlädt. Im sorgfältig renovierten Piaristenkloster aus dem 17. Jahrhundert sind heute eine Kunst-Grundschule, die großzügige Stadtbücherei und ein Museum untergebracht. In letzterem begegnen Besucher dem Mann mit dem durchdringenden Blick zum ersten Mal – eine kleine Dauerausstellung ist Freud gewidmet.

Wacht auf ewig über sein Příbor: Sigmund Freud.

„Alle wichtigen Artefakte sind natürlich in den Museen in Wien und London“, sagt eine Mitarbeiterin des Museums entschuldigend. Vor allem Drucke, Fotografien und Ausgaben der Werke Freuds füllen die wenigen Vitrinen. Man darf vermuten, dass die Gruppe polnischer Studenten, die gerade im Museum erwartet wird, sich trotzdem vor allem für diesen Teil der Geschichte Příbors interessiert und weniger für die Ausstellung zum 70-jährigen Bestehen des Fliegervereins oder die Schau „Příbor in Spitze“, für die ein engagierter Damenclub bemerkenswerte Häuser, Kirchen und andere Bauwerke der Stadt gehäkelt hat – darunter natürlich auch das Haus in der Schlossergasse 117, in dem Sigmunds Vater Jacob Freud ab 1856 ein Zimmer gemietet hatte.

Durch den Garten des Klosters, der im vergangenen Jahr für 20 Millionen Kronen (etwa 740.000 Euro) neu angelegt wurde, geht es zum herrschaftlich wirkenden Kulturgebäude, dessen von Säulen flankierter Eingang sich ab September für die Bürger der Stadt öffnen wird. „Příbor geht es wirtschaftlich gut“, bestätigt Bürgermeister Majer. Bedarf für Renovierungsarbeiten gibt es an manchen Stellen dennnoch – selbst am großzügig angelegten Marktplatz bröckeln einige Fassaden, auch die des funktionalistischen Rathauses, das seinerzeit ein Vorzeigeobjekt moderner Architektur war.

Marie Šupová interessiert sich für Freud und Folklore.

Viermal Freud auf 150 Metern
Noch bis 1989 trug der Hauptplatz den Namen des sowjetischen Diktators Stalin; in einem Referendum wurde schließlich darüber entschieden, dass auch Příbors Zentrum an Freud erinnern sollte. Als ob man ihn hier jemals vergessen könnte. Alleine auf den 150 Metern, die zwischen dem Marktplatz und seinem Geburtshaus liegen, kommt man am Restaurant „U Freuda“ und einer Bäckerei gleichen Namens vorbei, in der über Plastikbeuteln mit Semmelbröseln ein Porträt des berühmten Sohns der Stadt hängt.

Marie Šupová bietet sich als Begleitung zum Wallfahrtsort der Psychoanalyse an. Sie ist eine agile Dame um die 70, die sich zwar nicht darauf festlegen möchte, der größte Freud-Fan der Stadt zu sein, „aber zumindest bin ich der aktivste“. Seit den neunziger Jahren ist sie Mitglied der Freud-Gesellschaft, die mit Symposien, Vorträgen sowie Mal- und Fotowett­bewerben das Andenken pflegt. Das Freud-Folklore-Festival liegt ihr am Herzen. Aber mal ehrlich, Frau Šupová, was hatte Freud mit Folklore zu tun? „Die Leute interessieren sich dafür, welche Musik zu Freuds Zeiten gemacht wurde, welche Trachten und Tänze populär waren“, holt sie aus. Zudem sei es eine Veranstaltung, bei der alle Generationen zusammenkommen. So voller Leidenschaft schwärmt sie für die Trachtengruppen und die Tradition der Gegend, dass den Gast für einen Moment der Verdacht beschleicht, die dritte Vorsitzende der Freud-Gesellschaft interessiere sich möglicherweise gar nicht so sehr für das Werk des großen Psychologen.

Der berühmte Sohn der Stadt ist auch an Hausfassaden präsent.

Mit resoluten Handgriffen schließt Šupová ihr Fahrrad ab und öffnet die Tür des Hauses in der Schlossergasse (Zámečnická). Die Ausstellung in Freuds Geburtshaus möchte sie sich nicht mit ansehen, den Genius Loci solle die Besucherin lieber allein auf sich wirken lassen, sagt sie und entschwindet. Kaum ist sie weg, beginnt Freud zu sprechen. „Sie kommen wahrscheinlich von weit her, ihre Beine schmerzen, sie fühlen sich unwohl.“ Fast ein Volltreffer. Als Audioguide begleitet die sanfte Stimme eines älteren Herrn durch das Haus. Zu sehen gibt es nicht viel – ein enges Treppenhaus, knarrende Dielen, vier Zimmer. 2006 wurde das Gebäude renoviert, an der Eröffnung nahmen der damalige tschechische Präsident Václav Klaus und Mitglieder der Familie Freud teil.

Sigmunds Urenkelin, die britische Künstlerin Jane McAdam Freud, hat vor einigen Jahren sogar eine Immobilie am Marktplatz erworben, wie man im Ort stolz berichtet. Im Elternhaus ihres berühmten Verwandten erzählt die Stimme von Freuds Erinnerungen an das Příbor seiner Kindheit, vom tschechischen Kindermädchen und vom Klang der Kirchenglocken – und natürlich von Gisela, der Schwester seines Freundes Emil Fluss, in die Freud sich angeblich unsterblich verliebte, als er mit 16 Jahren Ferien in seinem Heimatort machte. Die Trennung überwand er durch Spaziergänge in der Natur. Wiesen mit gelbem Löwenzahn wurden für ihn zu einem Traumbild dieser Zeit.

Für Träume interessiert sich auch Marie Šupová, die dazu jährlich einen Malwettbewerb für Kinder und Jugendliche veranstaltet. „Spaziergänge durch die eigenen Traumlandschaften bieten jungen Leuten eine Gelegenheit, ihren Lebensweg zu reflektieren“, sagt sie. Eher an Erwachsene richtet sich die Ausschreibung „Sigmund Freud gestern – heute – morgen“, bei der originelle Fotos gesucht werden, die sich mit Person und Werk Freunds beschäftigen.

Porträt Freuds über den Auslagen der örtlichen Bäckerei.

Marie Šupovás Traum
Prospekte, Fotoalben und Bücher über Träume, Freud und Příbor hat Šupová inzwischen auf einem Tisch im Garten des Restaurants „U Freuda“ ausgebreitet. „Einmal hatten wir zwei Reisebusse mit Kanadiern und Franzosen hier“, erzählt sie. Leider sei das nicht so gut durchdacht gewesen – erst bei der Ankunft sei klar geworden, dass es in Příbor gar nicht genug Übernachtungsmöglichkeiten gab. Die Fachleute seien dann auf umliegende Orte verteilt worden.

Ihr eigenes Zuhause sei voll mit Freud-Andenken, verrät Šupová. Sie habe nur hier und da einen kleinen Durchgang zwischen den Bildern, Büsten, Postkarten und Fotos, die sich im Laufe der Jahre angesammelt haben. Gerne würde sie die Bilder, die für den Malwettbewerb „Mein Traum“ eingereicht wurden, als Buch veröffentlichen. Dafür möchte die Lehrerin im Ruhestand bald eine Crowdfunding-Kampagne starten. Ergänzen möchte sie die Bilder um Zitate zum Thema „Träumen“ – auch auf Englisch. Ihre Lieblings­aphorismen wird sie anschließend per E-Mail schicken.

Das Restaurant „U Freuda“ bietet derzeit übrigens keine Spezialitäten aus Freuds Heimat an, sondern mediterrane Küche. Der neue Betreiber ist vor kurzem aus Italien nach Příbor gekommen, der Liebe wegen. Ob er sich wohlfühle in der Stadt? „Naja“, sagt er auf Tschechisch. Sein Blick richtet sich in die Ferne, er beginnt von den Olivenbäumen in seiner Heimat zu schwärmen, der Sonne, dem Meer. „Wir haben doch immerhin einen Fluss“, entgegnet Šupová und beugt sich wieder über ihre Bücher. Und Freud.

Bürgermeister Bohuslav Majer

Interessieren sich eigentlich die Einwohner Příbors für das Werk des Wiener Doktors? Er habe einige Werke gelesen, sagt zumindest der Kassierer im Geburtshaus. Aber sein Eindruck sei, dass die Menschen hier eher gleichgültig seien, wenn nicht sogar genervt. „Er ist ja wirklich überall.“ Trotzdem sieht Šupová noch Spielraum, was die Unterstützung angeht, die ihre Freud-Gesellschaft von der Stadt erhält. Sie wünscht sich vor allem einen Raum für ihre Aktivitäten. Derzeit lagere das Archiv des Vereins in den Kellern ihrer Häuser, sagt sie. Ihrer Familie werde es manchmal schon zu viel.

Der Weg zurück zur Bushaltestelle führt durch Altstadtgassen mit Kopfsteinpflaster und renovierten kleinen Einfamilienhäusern. Ein kurzer Abstecher zur Pfarrkirche Mariä Geburt, von deren Garten aus sich der Blick auf das Vorgebirge der Beskiden eröffnet. Es ist wirklich sehr friedlich hier. Ob er auch manchmal Sorgen habe, hatte man Bürgermeister Majer am Mittag im Garten des Piaristenklosters gefragt, der seit der Revitalisierung ein beliebter Veranstaltungsort für Hochzeiten ist. Ihm ist nicht viel eingefallen. Natürlich, es gebe ein paar Obdachlose, das würde er nicht bestreiten, aber im Großen und Ganzen lasse es sich in Příbor gut leben.

Das glaubte offenbar auch Freud. 1931 richtete die Stadt eine Feier anlässlich des 75. Geburtstags ihres berühmtesten Sohnes aus. Er ließ sich entschuldigen, schrieb aber einen Brief. „Ich habe Příbor im Alter von drei Jahren verlassen und besuchte die Stadt im Alter von 16 Jahren in den Ferien als Gast der Familie Fluss, und dann nie wieder. Seit dieser Zeit habe ich viel erlebt: Ich habe mich sehr abgemüht, habe neben Qual auch Glück und etwas Erfolg gehabt, wie es im menschlichen Leben so geht. (…) Aber in einem bin ich mir sicher: Tief in mir blieb das glückliche Kind aus Příbor verborgen.“