Überraschende Zwillinge

Überraschende Zwillinge

Das erste gemeinsame tschechisch-österreichische Geschichtsbuch soll Ähnlichkeiten der beiden Länder aufzeigen – auch die Öffentlichkeit darf bei der Entstehung des Werks mitreden

15. 3. 2016 - Text: Corinna AntonText: Corinna Anton; Foto: Petr Buček

 

Ein Grenzort in Südböhmen, bis nach Österreich sind es nur ein paar Schritte. Was die Menschen hier über die auf der anderen Seite wissen? Sie zucken mit den Schultern. Ins andere Land fahren sie zum Einkaufen – Gemeinsamkeiten mit den Nachbarn fallen ihnen spontan nicht ein. Die gibt es aber zuhauf, findet Václav Šmidrkal. Er ist einer der Autoren des ersten gemeinsamen tschechisch-österreichischen Geschichtsbuches, an dem Historiker aus beiden Staaten derzeit arbeiten. Gegenseitiges Verständnis zu schaffen und Parallelen aufzuzeigen, die bisher kaum jemandem bewusst sind, darin besteht laut Šmidrkal das Ziel des Projekts. Es soll aber nicht nur ein Buch für die breite Öffentlichkeit werden – die künftigen Leser können auch Einfluss auf die Entstehung nehmen.

In Österreich haben die Autoren ihre Entwürfe bereits im Herbst präsentiert. Vom „langen 19. Jahrhundert“ bis zur Europäischen Integration beschäftigen sie sich in neun Kapiteln mit der Geschichte, die beide Länder trennt und verbindet. Jetzt hat das Publikum in Tschechien Gelegenheit, das Projekt zu kommentieren. Nach der ersten Diskussion in Prag werden die Historiker noch nach Brünn, Znojmo und Jihlava reisen. „Die Menschen können Anregungen geben, was wir noch aufnehmen sollten und Fragen stellen“, erklärt Šmidrkal, der die Veranstaltungen in Tschechien organisiert. Die Reaktionen des Publikums würden aufgenommen und berücksichtigt.

Streit gab es bei den Diskussionen laut Šmidrkal bisher nicht. Obwohl seiner Meinung nach fast alle Themen Konflikt­potenzial bergen. In Prag sei zum Beispiel über die Zwischenkriegszeit diskutiert worden und über die Frage, wie viel Platz im Buch den Juden eingeräumt werden sollte. In Österreich hätten Vertreter der Sudetendeutschen „ihre Sicht auf die Geschichte dargestellt, die verständlicherweise besonders, anders ist“, sagt der Historiker, der im Umgang mit den Sudetendeutschen eine Parallele zwischen der Tschechoslowakei und Österreich sieht: „Nachdem sie vertrieben wurden, hat Österreich sich auch nicht gerade höflich ihnen gegenüber verhalten. In der Nachkriegszeit hatte der Staat kein großes Interesse, sich um diese Flüchtlinge zu kümmern.“

Šmidrkal kennt eine ganze Reihe weiterer Parallelen, für die es in beiden Gesellschaften kaum ein Bewusstsein gebe. „Wir lernen in der Schule, dass wir bis 1918 in einem Staat gelebt haben, aber was danach im jeweils anderen Land geschah, darüber weiß man sehr wenig.“

Herausforderung und Experiment
In den fünfziger und sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts zum Beispiel sei die Tschechoslowakei gewiss eine kommunistische Diktatur gewesen, aber zu dieser Zeit sei auch die österreichische Demokratie „nicht besonders frei, liberal und offen“ gewesen.

Zudem lasse sich gut vergleichen, wie Österreich und die Tschechoslowakei (oder später Tschechien) als zwei kleine Staaten auf globale Entwicklungen reagieren. Šmidrkal zitiert in dem Zusammenhang den Publizisten und Charta-77-Unterzeichner Přemysl Janýr, der 1978 nach Österreich emigrierte. Er habe beide Länder als „Zwillinge“ bezeichnet. Das mag für viele überraschend klingen. „Sensationelle Enthüllungen“ wird das Geschichtsbuch Šmidrkal zufolge aber nicht bringen, auch mit Verschwörungstheorien befassen sich die Historiker nicht.
Fertig werden soll das Buch 2018. Es wird eine deutsche und tschechische Ausgabe geben, deren Inhalt und Layout identisch sein sollen, „damit man auf den ersten Blick erkennt, dass es dasselbe Buch in zwei Sprachen ist“, so Šmidrkal. Als Ergänzung sind auch Materialien für den Schulunterricht geplant. Das Buch richtet sich jedoch an Erwachsene. „Wir wollten kein Lehrbuch schreiben, weil wir bei ähnlichen Projekten in anderen Ländern gesehen haben, dass das eine Reihe von Problemen bringt. Zum Beispiel würde der Staat auf verschiedene Weise eingreifen.“ Bei dem geplanten Buch sei das nicht der Fall. Finanziert wird es zwar aus öffentlichen Mitteln. Gelder kommen von Ministerien, Kreisen und Bundesländern auf beiden Seiten der Grenze.

Auf den Inhalt habe das aber keinen Einfluss, versichert Šmidrkal, dafür seien allein die Autoren verantwortlich. Und die stehen sich laut Šmidrkal nicht als zwei nationale Gruppen gegenüber. Bei der Diskussion in Prag wollte das Publikum wissen, wie das österreichisch-tschechische Autorenteam Streitfragen löse. Eine Antwort darauf konnten die Historiker aber nicht liefern. „Wir arbeiten nicht gegeneinander. Wir vertreten keine kollektiven Interessen einer Nation, wie das in den neunziger Jahren bei der Deutsch-Tschechischen und Deutsch-Slowakischen Historikerkommission war, sondern individuelle Standpunkte.“

Hervorgegangen ist das Autorenteam aus der „Ständigen Konferenz österreichischer und tschechischer Historiker zum gemeinsamen kulturellen Erbe“. Erste Entwürfe für das Projekt gab es bereits vor mehr als zehn Jahren. Es hat aber eine Weile gedauert, die Finanzierung sicherzustellen. „Derzeit herrscht auf beiden Seiten die Überzeugung, dass die tschechisch-österreichischen Beziehungen wichtig sind und vertieft werden sollten. Es ist ein Grundkonsens vorhanden, dass das Buch nötig ist“, erklärt Šmidrkal. Er hofft, dass es ein Erfolg wird, glaubt aber auch, dass es für Kritiker einfach sein wird, das Ergebnis zu kritisieren. Denn das Genre ist ein Experiment. Das Buch richtet sich an ein Laienpublikum. Die Wissenschaftler, die es gewohnt sind, schwer verständliche akademische Texte zu verfassen, müssen so schreiben, dass jeder etwas damit anfangen kann, auch ohne Geschichte studiert zu haben.
Außerdem weiß Šmidrkal auch, „dass das Buch nicht allen gefallen kann“. Denn Anregungen der Öffentlichkeit aufzunehmen heißt nicht, dass die Historiker es allen recht machen können. „Wir werden Kompromisse finden müssen und das Ergebnis wird etwas Anderes sein als das, woran die meisten Leser gewöhnt sind. Die nationalen Vorstellungen von Geschichte werden mit den Vorstellungen eines anderen Staates konfrontiert.“

Präsentationen und Diskussionen:

31. März, 18 Uhr | Brünn (Moravská zemská knihovna v Brně, Kounicova 65a)
7. April, 19 Uhr | Znojmo (Dům uměni, Masarykovo naměstí 11)
12. April, 18 Uhr | Jihlava (Oblastní galerie Vysočiny, Komenského 10)