Die Reihenhausidylle von Ostrava

Die Reihenhausidylle von Ostrava

Im „Dorf des Zusammenlebens“ wohnen Roma- und Nichtroma-Familien in einem landesweit einzigartigen Projekt Tür an Tür – und verstehen sich bestens

13. 1. 2016 - Text: Jana WagnerText und Foto: Jana Wagner

Die Reihenhäuschen im Stadtteil Muglinov in Ostrava glänzen in der Januarsonne, schneebedeckte Buchsbaumhecken schmücken die gepflegten Vorgärten. Kinder kommen fröhlich mit ihren Ranzen bepackt von der Schule nach Hause. Der Straßenzug ist wie viele andere Wohngebiete in Tschechien: ordentlich, sauber und mit einem Hauch von Biederkeit versehen. Doch dahinter verbirgt sich ein einzigartiges Sozialmodell.

Insgesamt 30 Familien leben im „Dorf des Zusammenlebens“ („Vesnička soužití“), das von der lokalen Caritas sowie dem Bürgerverein „Vzájemné soužítí“ („Beidseitiges Zusammen­leben“) am Rande eines Industriegebietes gegründet worden ist. Die Mieter kommen ursprünglich aus prekären Wohnsituationen, waren arbeitslos oder hatten Schulden. Eine schwierige soziale Lage ist Bedingung, um auf die Warteliste für eine Wohnung zu gelangen. Ein weiterer zentraler Punkt ist die ethnische Durchmischung, woraus sich auch der Name des Projekts ableitet. In dem kleinen Viertel leben zehn Roma-Familien, zehn gehören der Mehrheitsbevölkerung an und zehn verfügen über eine gemischte Identität. Ebenso ist ein von Sozialarbeitern betreutes Freizeitzentrum Teil des Konzepts.

Müllberge und Spuren von Vandalismus gibt es hier nicht, obwohl Caritas-Mitarbeiter davon erzählen, wie manch ein Kritiker sicher war, dass ein friedliches Miteinander von Roma und Nichtroma unmöglich sei und die Häuser schnell wieder kaputt gemacht würden. Doch die Siedlung erscheint geradezu modellhaft aufgeräumt.

Danuše Otčenášková ist zu Besuch im Freizeitzentrum. Die zierliche Mutter von sieben Kindern lebt seit 14 Jahren hier. 3.900 Kronen (rund 150 Euro) zahlt sie und ihre Familie für die Kaltmiete der 73 Quadratmeter Wohnfläche. „Ich war dabei, als man 2002 damit anfing, die Häuser zu bauen“, erinnert sich die 36-Jährige. Damals sei sie mit ihrem zweiten Kind schwanger gewesen und lebte in einer „Ubytovna“, einer herbergsartigen Notunterkunft ohne reguläre Mietverträge. „Ich habe sehr schöne Erinnerungen daran, wie ich all die netten Nachbarn und Leute aus dem Freizeitzentrum kennengelernt habe. Wir mussten damals 200 Stunden Arbeit in den Bau unserer zukünftigen Heime investieren, wenn wir dort wohnen wollten“, lässt sie die Pionierzeit Revue passieren.

Lange Warteliste
Stein des Anstoßes zu dieser ungewöhnlichen Form des Zusammenwohnens war eine Naturkatastrophe. Nachdem 1997 bei einer Flut in Ostrava zahlreiche Bürger ihre Wohnungen verloren hatten, sammelten „Vzájemné soužití“ und die Caritas rund 66 Millionen Kronen (etwa 2,4 Millionen Euro) Fördergelder, hauptsächlich generiert aus der Kasse des tschechischen Ministeriums für lokale Entwicklung. Damit baute man 30 kleine Häuser für diejenigen Menschen, die es schwer haben würden, auf dem Mietmarkt anständige und bezahlbare Wohnungen zu finden. Gleichzeitig wollten die Ini-tiatoren ein Modell etablieren, welches eindrücklich beweisen würde, dass ein friedliches Zusammenleben zwischen Roma und Nichtroma möglich ist.

Deswegen soll an der Zusammensetzung der Bewohner auch nichts geändert werden. Jede Familie, die auf die Warteliste gesetzt werden möchte, muss angeben, welcher der drei genannten Gruppen sie sich zugehörig fühlt. Obwohl selten Familien die Siedlung verlassen, stehen momentan 40 Interessenten auf der Liste. Allerdings kommen dabei lediglich drei aus der Gruppe der Mehrheitsbevölkerung.

„Es gibt keine Rassisten hier“, antwortet Otčenášková ohne zu Zögern auf die Frage, ob es denn auch funktioniere mit der reibungslosen Koexistenz. Sie selbst hat einen Roma- und einen Nichtroma-Elternteil. Wichtig sei doch, dass die Leute miteinander kommunizieren und offen aufeinander zugehen, so Otčenášková weiter. „Woanders verurteilen mich die Leute, weil ich so viele Kinder habe. Hier haben mir immer alle gratuliert, wenn ich wieder schwanger war“, sagt sie.
Für Otčenášková selbst ist das Wohnprojekt eine große Erfolgsgeschichte. „Ich bin dankbar, dass ich ein richtiges Dach über dem Kopf habe, sonst würde ich vielleicht noch heute in einer Herberge wohnen“, vermutet sie.

Zwiespältige Gefühle
Miroslav Hodeček, 55 Jahre alt und Leiter des Zentrums für soziale Integration der Caritas in Ostrava, hegt zwiespältige Gefühle. „Viele Kinder, die hier aufgewachsen sind, machen die Schule nicht zu Ende“, erklärt er. Dabei sei das Angebot an sozialer Hilfe und Beratung ziemlich groß. Es gibt einen Jugendraum und einen Kindergarten, eine Sozialberatungsstelle sowie professionelle Familienhilfen, die im Notfall auch zu den Menschen nach Hause kommen. Dennoch schaffen es längst nicht alle, ihr Leben in geordnete Bahnen zu lenken. „Bei ,weißen’ Kindern reicht es später zu einem guten Job, wenn sie für die Schule einigermaßen ordentlich lernen. Romakinder müssen ungleich mehr Hindernisse überwinden“, meint Hodeček.

Die Situation vieler Familien habe sich zwar positiv entwickelt, 80 Prozent der in der Siedlung Lebenden hätten Arbeit. Doch trotz ähnlicher Ausgangslage gehe es den Familien ohne Roma-Hintergrund materiell oft besser. „Eine ,weiße’ Familie assoziieren die meisten Tschechen weniger mit Armut, auch wenn sie mittellos ist,“ fügt er hinzu. Das gesellschaftliche Stigma fällt im Gegensatz zu Roma-Familien weg, somit ist es auch leichter, besser bezahlte Arbeit zu finden.

Defizite sieht er aber auch auf Seite der benachteiligten ethnischen Minderheit. Wenn es nach ihm ginge, müsste man die Roma nicht nur fördern, sondern auch mehr fordern. Sozialgeld gäbe es demnach nur im Austausch gegen den Besuch verpflichtender Kurse. „Die Roma müssten auch mehr an sich arbeiten“, so Hodeček. Zum Fordern würde auch gehören, dass keine unbefristeten Mietverträge vergeben werden, um im Zweifelsfall ein Druckmittel in der Hand zu halten. Hodeček weiß wovon er spricht. „Ich habe zehn Kinder; fünf eigene und fünf Romakinder aus schwierigen Familienverhältnissen kommend zur Pflege.“

Gegenseitige Unterstützung
Doch grundsätzlich funktioniert das Zusammenleben in der Siedlung sehr gut. „Die Leute hier kennen sich. Und wenn es Probleme gibt, können sie sich an uns wenden“, sagt Hodečeks Kollegin Soňa Mrhálková, die im Freizeitzentrum als Sozialarbeiterin tätig ist.

Ganz unbeschwert und unproblematisch klingt es, wenn Bewohner erzählen. Ladislav Hamar ist einer davon. Er und seine Frau leben seit zehn Jahren hier und sagen, dass sie mit allen gleich umgehen. „Wir helfen uns gegenseitig, zum Beispiel, wenn mal ein Auto kaputt geht. Und man passt auf das Haus des Anderen auf, wenn dieser in den Urlaub fährt“, erzählt der 63-Jährige. „Hier existiert kein Rassismus“, meint auch sein Nachbar und Vater von vier Kindern Josef Baláž. „Es gibt so viele leerstehende Wohnungen, aber als Roma haben wir auf dem normalen Mietmarkt keine Chance“, so der 43-Jährige.

Es ist Nachmittag. Die Häuser fangen an, lange Schatten zu werfen. Einige Bewohner kommen von der Arbeit nach Hause, grüßen sich, bleiben kurz stehen und wechseln ein paar freundliche Worte. Jemand geht mit dem Hund spazieren. Alles ganz normal hier im Dorf des Zusammenlebens.