Die Glücksstadt stirbt aus

Die Glücksstadt stirbt aus

Für die Arbeiter wurde Havířov vor 60 Jahren gegründet. Heute flieht die Bevölkerung vor der Arbeitslosigkeit

6. 1. 2016 - Text: Corinna AntonText: ca/čtk; Foto: ČTK/Drahoslav Ramík

s war einmal eine Region im Osten des Landes, in der es viel Arbeit gab. Viel Arbeit und viele Menschen, die Wohnungen brauchten. Also entschied die Regierung, eine neue Stadt zu errichten. Was sich heute anhört wie ein Märchen, liegt noch gar nicht so lange zurück. Vor gerade einmal 60 Jahren, am 4. Dezember 1955, entstand zwischen Ostrava und der polnischen Grenze auf Grundlage eines Regierungsbeschlusses Havířov, Tschechiens jüngste Stadt. Gemessen an der Zahl der Einwohner ist sie heute die elft­größte Kommune des Landes. Das könnte sich allerdings in einigen Jahren ändern. Die Bevölkerung schrumpft, Tausende junge Menschen ziehen weg, weil sie in der Region keine Arbeit finden.

Jedes Jahr verliere die Stadt etwa 1.000 Einwohner, sagt Daniel Pawlas, Oberbürgermeister und Mitglied der Kommunistischen Partei (KSČM). In den siebziger und achtziger Jahren lebten noch mehr als 92.000 Menschen in der Stadt. Mittlerweile sind es 17.000 weniger. „Wir haben leerstehende Wohnungen, die Kaufkraft sinkt, Gewerbeflächen werden frei und das Stadtzentrum verfällt langsam“, klagt Pawlas. Je mehr Menschen wegziehen, desto weniger Steuern kommen letztendlich in der Rathauskasse an. Dutzende Millionen Kronen werden es dem Oberbürgermeister zufolge jedes Jahr weniger. Die Stadt selbst hat seiner Meinung nach aber nur eingeschränkte Möglichkeiten, den Wegzug ihrer Bürger zu verhindern.

Die Arbeitslosenquote lag in Havířov im Oktober bei knapp zwölf Prozent – das heißt, dass mehr als 6.100 Menschen nach einer Beschäftigung gesucht haben. Zum Vergleich: In Tschechien waren im Oktober 5,9 Prozent ohne Job, in Mährisch-Schlesien 8,3 Prozent. „Das ist natürlich ein bekanntes Problem in der ganzen Region und besonders im Bezirk Karviná. Mit der Arbeitslosigkeit sind auch so­ziale Schwierigkeiten verbunden, vor allem der Bevölkerungsschwund.“

Name gesucht
Vor 60 Jahren war das anders. Havířov entstand am südlichen Rand der Industrieregion zwischen Ostrava und Karviná, im Gebirgsvorland der Beskiden. Historisch gehört die Gegend zum Těšínsko, dem Teschener Schlesien, das 1920 zwischen Polen und der Tschechoslowakei aufgeteilt wurde. Nach dem Zweiten Weltkrieg brauchten die Bergwerke und Eisenhütten in der Region Arbeiter. Und die Arbeiter brauchten Wohnungen. Die Regierung beschloss deshalb, eine neue Stadt zu errichten. Wie sie heißen sollte, wussten die Behörden noch nicht, deshalb schrieben sie einen öffentlichen Wettbewerb aus.

Die Bürger beteiligten sich damals eifrig. Mehr als 2.350 Ideen reichten sie ein, darunter viele, die dem Zeitgeist entsprachen – zum Beispiel Vzletovice (etwa „Aufschwungsburg“), Úspěšín („Erfolgswalde“), Šťastnov („Glücksstadt“) und Kombajnov („Mähdrescherfelde“). Die meisten Stimmen aus der Bevölkerung bekam damals der Vorschlag, die neue Stadt nach dem Dichter Petr Bezruč zu benennen. Eine Kommission des örtlichen Nationalausschusses entschied sich jedoch für Šachtín („Schachthausen“), auf Platz zwei landete bei ihrer Wahl Havířov, was wörtlich etwa „Bergmannstadt“ heißt. Das letzte Wort hatte das Innen­ministerium, das der Stadt ihren heutigen Namen gab.

Havířov wuchs in Etappen. Die ersten Siedlungen für 2.000 Menschen wurden bereits ab 1947 auf dem Gebiet der damaligen Gemeinde Šumbark errichtet. Architekten und Bauarbeiter schufen immer mehr Wohnraum für Bergarbeiter und ihre Familien. Von 1952 bis 1955 zum Beispiel entstanden die symmetrisch angelegten Blockbauten, die später zur Einfallstraße des Stadtzentrums wurden. Ein Teil der Stadt, der im Stil des Sozialistischen Realismus errichtet wurde, steht seit 1992 unter Denkmalschutz.

Heute habe Havířov eine gute Infrastruktur, sagt der Oberbürgermeister. „Es ist eine schöne Stadt, aber leider ist es, als würde sie schrittweise aussterben.“ Die Bevölkerung wird nicht nur kleiner; weil vor allem junge Menschen wegziehen, wird sie im Durchschnitt auch immer älter. Laut Pawlas leben in der Stadt etwa 18.000 Senioren, Havířov müsse zum Beispiel neue Pflege­heime bauen, meint der Oberbürgermeister. Ganz anders sieht es bei der Kinderbetreuung aus. „Für junge Familien ist unsere Stadt sehr attraktiv“, sagt Pawlas. Anders als in Prag sei es kein Problem, einen Kindergartenplatz zu bekommen. „Aber paradoxerweise haben wir hier trotzdem nicht genug Kinder.“

Guter Ruf in der Region
Da nützt es auch wenig, dass Havířov im Großraum Ostrava einen guten Ruf hat, als eine Stadt mit hoher Lebensqualität gilt. Im Vergleich zu anderen Orten in der Region ist die Umwelt relativ sauber, das Angebot an Parks und anderen Freizeit­anlagen gut. Auch im Bereich Kultur und Sport könne Havířov etwas bieten, wirbt der Oberbürgermeister für seine Stadt, ein „reiches Programm für einen sehr günstigen Preis, ich glaube, dafür müssen wir uns wirklich nicht schämen“. Aber all das genüge nicht, um die Menschen in der Region zu halten. Mindestens zwei oder drei starke Investoren, meint Pawlas, bräuchte man noch in der Gegend.

Zu den größten Arbeitgebern in Havířov zählen derzeit das Krankenhaus, die Stadtverwaltung und ein Hypermarkt. Immerhin besteht Hoffnung, dass sich die Lage in den kommenden Jahren ein wenig verbessert. Auf dem Gelände der stillgelegten Grube Dukla will das schwedische Unternehmen Mölnlycke Health Care für 1,6 Milliarden Kronen eine Fabrik bauen. Der Hersteller von Einweg-Operationssets plant, spätestens Mitte 2017 etwa 200 bis 300 Angestellte in Havířov zu beschäftigen. Bisher hat die Firma bereits ein Werk in Karviná, 600 Menschen arbeiten dort.

Und auch anderswo in der Region stehen Investitionen an. So plant das südkoreanische Unternehmen Hyundai Mobis ein neues Werk für die Produktion von Scheinwerfern in Mošnov, etwa 30 Minuten Fahrzeit von Havířov entfernt. Dort sollen mehr als 900 Arbeitsplätze entstehen, weitere Stellen, so hofft man in der Region, könnten Zulieferer schaffen. Und in Karviná wird derzeit ein Multifunktionszentrum namens Business Gate eingerichtet, das vor allem junge Menschen bei der Gründung eines Unternehmens unterstützen soll. Ziel des Projekts sei es, Absolventen von Hoch- und Mittelschulen mit guten Ideen in der Region zu halten, so der stellvertretende Oberbürgermeister Lukáš Raszyk (ČSSD). Die Stadt investiert dafür 1,2 Millionen Kronen (44.000 Euro) aus ihrem Haushalt, weitere 4,7 Millionen Kronen kommen aus EU-Fördertöpfen.

Historische Spuren
Zwar gilt Havířov als jüngste Stadt des Landes, einzelne Viertel können jedoch eine jahrhundertealte Geschichte vorweisen. So gibt es zum Beispiel historische Dokumente, die belegen, dass Bludovice (deutsch: Bludowitz, heute ein Stadtteil von Havířov) bereits 1335 existierte. Šumbark (Schumbarg) wurde im Jahr 1438 erstmals erwähnt, aber wahrscheinlich bereits früher gegründet. Mitte des 16. Jahrhunderts taucht es in Dokumenten als stadtähnliche Ansiedlung auf; ob sie auch ein Stadtrecht hatte, ist jedoch nicht belegt.