Der vergessene Häftling

Der vergessene Häftling

Vor 100 Jahren starb Gavrilo Princip in der Haftanlage von Theresienstadt. Im Juni 1914 verübte er das Attentat von Sarajevo, das zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs führte

28. 4. 2018 - Text: Sebastian Garthoff


Nach dem Attentat von Sarajevo im Juni 1914 wird der Todesschütze Gavrilo Princip in der Festung Theresienstadt (Terezín) interniert. Er stirbt dort am 28. April 1918 mit gerade einmal 23 Jahren an Knochentuberkulose. Ein Historiker wertet seine Haft in Theresienstadt als Todesurteil auf Raten. Die Erinnerung an den einst berühmtesten Häftling ist jedoch längst verblasst.


In dem Jahr, in dem der 19-jährige Gavrilo Princip in Sarajevo die Hand hebt und auf den Abzug drückt, erscheint beim Verlag Springer in Berlin Martin Pappenheims Studie „Die Neurosen und Psychosen des Pubertätsalters“. Princips Schüsse töten im Sommer 1914 den österreichischen Thronfolger und dessen Frau, lösen die sogenannte Julikrise aus und führen wenige Wochen später zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs. Ein Jahr später, Princip ist längst verurteilt und in Haft, wird Pappenheim in Wien habilitiert. Als Militärarzt wird er sich in der Folgezeit vor allem mit den Kriegsneurosen der Soldaten beschäftigen.

Gavrilo Princip während der Haft in Theresienstadt

Im Frühjahr 1916 befindet sich Pappenheim dienstlich in der Festung Theresienstadt, die im 18. Jahrhundert von den Habsburgern erbaut wurde. Das Gefängnis in Nordböhmen ist damals der Ort für die „schlimmen Fälle“. Gavrilo Princip, nach damaligem Recht noch minderjährig, deshalb der Todesstrafe entgangen und zu 20 Jahren Zuchthaus verurteilt, sitzt dort zusammen mit einigen weiteren Beteiligten des Attentats ein.

Der Psychiater Pappenheim wird zwischen Februar und Juni mehrere Gespräche mit dem jungen Attentäter führen, die er in kurzen Notizen festhält. Diese Dokumente offenbaren einen wenig bekannten Blick auf das Leben des Attentäters von Sarajevo, seine Lebensgeschichte, die Geschichte des Attentats sowie seine politischen und sozialen Ideale.

Der Insasse Princip, ein schmächtiger Bursche und zu diesem Zeitpunkt bereits gezeichnet von über einem Jahr Kerkerhaft, gilt den einen als Held, den anderen als gefährlicher serbischer Nationalist. „Durch die Haftbedingungen wurde er umgebracht, ohne dass das Gesetz verletzt wurde“, sagt der Historiker Vojtěch Blodig, stellvertretender Leiter der Gedenkstätte Theresienstadt. „Von Anfang an war seine Behandlung ziemlich schlecht und man rechnete damit, dass der Attentäter hier umkommen wird.“

Das Gebäude, in dem Princip in der Kleinen Festung Theresienstadt ab dem 5. Dezember 1914 eingekerkert war, erinnert von außen an einen Stall. Der Gang ist schmal und dunkel, Princips Zelle ist die erste von links. Über der Tür prangt die Zahl „1“. Er wurde in Dunkelhaft gehalten, durfte mit niemandem sprechen, keine Bücher lesen, für die Notdurft diente ein Eimer, waschen durfte er sich einmal pro Woche. Die Zelle ist knapp zweieinhalb Meter lang und eineinhalb Meter breit, kalt, feucht. Am Ort der ursprünglichen Zellentür erinnert noch eine Tafel mit der Aufschrift „Cela Gavrilo Principa“ an den einst berühmtesten Häftling. Heute redet niemand mehr von ihm.

Während des Zweiten Weltkriegs diente die Kleine Festung Theresienstadt als Gestapo-Gefängnis. „Die Erinnerung ist komplett von dieser Zeit überlagert“, sagt Historiker Blodig. Zwar werden jährlich im Mai Blumen auch von serbischen Diplomaten in der Gedenkstätte abgelegt, aber das geht auf die Initiative der ehemaligen, in erster Linie jüdischen Häftlinge aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs zurück. Mit Princip selbst habe das wenig zu tun, meint Blodig. „Für die heutige Generation ist es fast eine unbekannte Geschichte, dass er hier gewesen ist.“

Zelle von Gavrilo Princip in der Kleinen Festung Theresienstadt

Princip hält etwas länger als ein Jahr im Kerker durch, dann wird er wegen einer Tuberkulose-Erkrankung ins Militärkrankenhaus eingeliefert. In dem mächtigen, heute leerstehenden Bau mit der gelben Fassade, nur ein paar Schritte vom Stadtzentrum entfernt, trifft er mit Martin Pappenheim zusammen. Sie sprechen Deutsch, das Princip zwar nicht fließend kann, genug aber, um sich zu verständigen. „Pappenheim wollte die Gelegenheit einfach nutzen, mit dieser Ausnahmeperson zu sprechen“, meint Vojtěch Blodig.

In den Gesprächen formt sich das Bild eines einsamen und introvertierten Musterschülers, der immer wieder auf Ablehnung stößt, sei es bei einem Mädchen, das ihn nicht beachtet, oder später beim Militär, das ihn für zu schwach für den Einsatz im Balkankrieg befindet. „War wenig mit anderen Schülern, immer einsam“, notiert Pappenheim, „war immer ruhig, sentimentales Kind. Immer ernst mit Büchern, Bildern usw“.

Princip vergräbt sich in Bücher und träumt von der Einheit der südslawischen Völker, der Serben, Kroaten, Slowenen. Dies sei das Ideal Princips gewesen, aber nicht unter Österreich, in einer Staatsform, „Republik oder so“. Für eine solche Revolution habe das Terrain bereitet werden müssen. Niemals habe er gedacht, dass so ein Weltkrieg ausbrechen werde, wegen einer solchen Sache. So könne er sich auch nicht schuldig fühlen. „Fürchte aber, dass umsonst getan habe“, zitiert Pappenheim den Attentäter.

Gavrilo Princip (erste Reihe, Mitte) und andere Mitverschwörer während des Prozesses in Sarajevo im Oktober 1914

In den kurzen Nächten seiner Haft, er schlafe meist nur vier Stunden, träume er viel. Schöne Träume. Vom Leben, von der Liebe. Vom Krieg habe er etwas gehört. Auch eine tragische Sache, dass Serbien nicht mehr bestehe. Oft, hält Pappenheim fest, beginne Princip einen Satz, wolle dann aber nicht weiter darauf hinaus. „Wenn er selbst denke, dann sei alles klar, wenn aber mit jemandem spreche, dann unsicher“, beobachtet der Psychiater.

Die Einsamkeit, der Mangel an Büchern, die Sehnsucht nach seiner Familie setzen ihm zu. An einem Frühjahrstag 1916 gegen 12 Uhr, er kann nicht essen, ist schlecht gelaunt, hat er auf einmal die Idee, sich aufzuhängen. Es misslingt. Seine Stimmungslage bleibt resigniert. Seine Gesundheit leidet. „Wunde schlechter. Eitert sehr stark. Sieht miserabel aus“, schreibt Pappenheim am 18. Mai 1916. Und am 5. Juni, dem Tag des wohl letzten Zusammentreffens zwischen Pappenheim und Princip: „Arm soll, wenn Erlaubnis da ist, amputiert werden. Seine gewöhnliche resignierte Stimmung.“

Neben Pappenheim wird Princip von vier weiteren Ärzten behandelt. Einer davon, der Prager Chirurg Jan Levit, sollte später selbst als Häftling in Theresienstadt enden. Als Princip als Folge der Haftbedingungen der Arm amputiert werden muss, soll dieser laut Vojtěch Blodig mit Silberdraht fixiert worden sein, was die giftigen Prozesse im Körper noch unterstützt habe.

Die Gespräche mit Princip werden 1926 beim Wiener Verlag Rudolf Lechner & Sohn in einem dünnen 32-seitigen Buch veröffentlicht. Bereits 1919 war es auf Tschechisch erschienen. Kein Zufall, wie Historiker Blodig findet: „Die Tat Princips war Bestandteil der Widerstandsbewegung der Slawen gegen die Monarchie und als solche Teil der ideologischen Basis des neu gegründeten tschechoslowakischen Staates.“ Noch heute ist in Terezín eine Straße nach Princip benannt.

Am 28. April 1918 stirbt Gavrilo Princip im Gefängnislazarett von Theresienstadt mit 23 Jahren an Knochentuberkulose. Er wird auf dem Städtischen Friedhof beerdigt. 1920 werden seine Gebeine nach Sarajevo überführt. Zusammen mit den Mitverschwörern des Juni 1914 liegt er heute auf dem dortigen Friedhof Kosevo begraben.

Kommentare

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  1. Gavrilo Princip wollte seinen persönlichen Kampf gegen die Diktatur Österreich-Ungarns führen um die Okkupation Westserbiens, z.B. Bosnien-Herzegowina, zu beenden. Der Hintergrund ist, dass obwohl die Serben erfolgreich den Aufstand gegen die Osmanen geführt haben wurden die Länder Herzegowina und Bosnien beim Berliner Kongress 1878 nicht an das Königreich Serbien oder Montenegro zugeschlagen sondern man erlaubte Österreich-Ungarn diese zu okkupieren und sie führten ihre Kolonialpolitik durch. Was erwartet da ein ausländischer Okkupant von der Bevölkerung? Die Organisation „Mlada Bosna“ (Junges Bosnien) setzte sich ein für alle Serben und Südslawen. Damals, vor 100 Jahren, empfanden sich alle Menschen islamischen Glaubens und ein Grossteil der Katholiken als Serben. Heute sind sich ausschliesslich alle Menschen christlich-orthodoxem Glaubens dem Serbentum bewusst und lediglich kleine Anteile der Muslime und Katholiken fühlen sich als Serben. Die Mehrheit nennen sich heute Bosniaken und Kroaten. Mal schauen wie es in weiteren 100 Jahren aussehen wird, ob der Name „Serbe/Serb/Srbsko“ generell entfernt wird von der ethnischen und geografischen Karte so wie es Anfang des 20. Jahrhunderts in Wien lautete „Serbien muss sterbien!“.





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