Pauken im Protektorat

Pauken im Protektorat

Ein Online-Projekt der Gedenkstätte Theresienstadt versetzt Schüler in die Zeit des Zweiten Weltkriegs. Es soll rechtsextremen Tendenzen entgegenwirken

10. 4. 2013 - Text: Martin NejezchlebaText: Martin Nejezchleba; Foto: wikimedia

Hana Musílková ist begeistert. Die Schuldirektorin aus dem ostböhmischen Städtchen Smidary steckt mitten in den Vorbereitungen zu einem Projekttag, wie es ihn an ihrer Grundschule noch nicht gegeben hat. Dabei handelt es sich um ein Thema, das im gängigen Geschichtsunterricht nicht gerade für Hochstimmung sorgt: die nationalsozialistische Besatzung, das Leben im Protektorat Böhmen und Mähren. Diesmal aber stehen die Dinge anders. „Das ist Erlebnisunterricht, die Kinder können Alltagssituationen selbst erleben, sie können sich in die Zeit des Protektorats zurückversetzen“, so die enthusiastische Pädagogin.

Die Rede ist von einem Web-Projekt, das Mitarbeiter der Gedenkstätte Theresienstadt entwickelt haben. „Školákem v protektrátu”, zu Deutsch „Schüler im Protektorat“, richtet sich an Kinder und Lehrer und soll eine interaktive Auseinandersetzung mit den Geschichtsthemen Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg ermöglichen. In einer virtuellen Umgebung können Schüler den Alltag im Totalitarismus erleben. Fotos, Videos, historische Dokumente und Schülerschicksale dienen als Anschauungsmaterial. Glaubt man der Rektorin Musílková, dann geht das Konzept auf, die Schüler seien Feuer und Flamme.

An den Webseiten arbeitet das Team um Jan Špringl seit 2010. Im vergangen Jahr ging eine Probeversion online, seit Anfang 2013 ist sie voll einsatzfähig. „Unser Ziel ist es, den Schülern die Vorteile des demokratischen Systems, in dem sie leben, nahezubringen“, erklärt Špringl. In Zeiten, in denen der Einfluss rechtsextremer Gruppierungen zunimmt sei es wichtig, Kindern die brutale Geschichte dieser Ideologie nahezubringen.

Hitler im Klassenzimmer
Nach dem Öffnen der Seite „skolakemvprotektoratu.pamatnik-terezin.cz“ wird der User aufgefordert, zwischen der Sektion für Unter- oder Über-Zwanzigjährige zu wählen. Hinter einem Klick auf die Kategorie für Erwachsene verbergen sich didaktische Materialien: historische Abrisse zu den Entwicklungen vor und während des Zweiten Weltkriegs oder multimediales Anschauungsmaterial zu Freizeit und Schulalltag im Protektorat.

Für den explorativen Schüler ist die zweite Kategorie gedacht. Dort gerät er über eine Auswahl von Alter und Schultyp in „seine Schule“ von vor 70 Jahren. Die Lehrer in der Grundschule Smidary arbeiten mit den Schülern der Jahrgangsstufen Sechs bis Neun am interdisziplinären Projekttag zum Thema Protektorat. Auf den Webseiten erfahren die Kinder zum Beispiel, wie ihr Klassenzimmer damals ausgesehen hätte: Ein Kreuz und das Wappen des Protektorats Böhmen und Mähren an der Wand, ab 1941 dann Porträts von Adolf Hitler und Emil Hácha, dem Protektoratspräsidenten. In Originaldokumenten finden Grundschüler heraus, dass sie sich an Sammelaktionen beteiligen müssten, Maikäfer für Tierfutter, Kastanien oder Hagebutten. Sie lernen, welche Fächer damals auf dem Lehrplan standen und auch, dass die Winterferien oftmals um Wochen verlängert wurden. Eine Aufgabe führt zur richtigen Antwort nach dem Warum: Die Kohlevorräte waren knapp, die Schulen nicht zu beheizen.

Vornehmlich höheren Jahrgangsstufen möchte das Team um Jan Špringl ein weiteres, dunkles Kapitel aus dem damaligen Schulalltag erkläutern. „Wir wollen zeigen, welche vermeintlichen Kleinigkeiten damals zur Verfolgung und gar zu Haft führen konnten“, so Špringl.

Bislang habe man auf den Seiten etwa 15.000 Besucher verzeichnet. Die Reaktion der Lehrer sei durchweg positiv. Ob der interaktive Geschichtsunterricht aber tatsächlich in Schulen angewendet wird, hängt nicht nur vom Interesse der Lehrer ab. Für Neueste Geschichte bleibt laut Blanka Mourlová, Leiterin des Collegium Bohemicum in Ústí nad Labem in tschechischen Schulen – ebenso wie in Deutschland – wenig Zeit. Dabei sei gerade eine tiefgreifende Auseinandersetzung mit der deutsch-tschechischen Geschichte dringend nötig. „Die Geschichtsauslegung folgt in Tschechien noch überwiegend dem chronologischen und nationalstaatlichen Prinzip“, so Mouralová. Für eine Auseinandersetzung mit der multiethnischen Vergangenheit der Tschechoslowakei bleibe kaum Zeit. Zur Beschäftigung mit der Geschichte der Sudetendeutschen etwa, fehle es an methodischen Anleitungen. Die Vertreibung werde laut Mouralová nicht nur in der Schule tabuisiert, eine Unterrichtsstunde zu dem Thema verlange den Lehrern sehr viel Mut ab.
 
In der Grundschule Smidary geht man das Wagnis „interdisziplinärer Projekttag“ dennoch ein. Im Mai werden sich die Schüler von Hana Musílková für einen Tag in das Protektorat Böhmen und Mähren zurückversetzen. Und das über die Grenzen des Geschichtsunterrichts hinaus: Geplant sind auch musikalische und künstlerische Projekte. Im Herbst möchte man sich dann auf die Suche nach der Geschichte der eigenen Schule machen.